PRÜFUNGEN SIND ECHTE CHANCEN – ERFAHRUNGEN ALS SCHÜLER, STUDENT UND DOZENT

Über Corona kann ich fast nichts mehr lesen, geschweige denn schreiben. Die Absage von Maturaprüfungen und  interaktivem Frontal-Unterricht in Hörsälen und Seminarräumen  haben mich in einer schlafarmen Nacht veranlasst, über meine Vergangenheit als Schüler, Maturand, Student und Professor zu sinnieren.

In der ländlichen Primarschule Kleindietwil mit ca. 350 Einwohnern verbrachte ich die ersten Jahre in einer Gesamtschule mit vier Klassen, aber einer hervorragenden Lehrerin. Wer in die Sekundarschule wollte, musste eine mehrstündige Aufnahmeprüfung bestehen, was mir offensichtlich sehr gut gelang. In der Sekundarschule besuchte der Klassenlehrer meine Eltern und empfahl, mich in ein Gymnasium zu schicken, was ich jedoch ablehnte, weil ich nicht zu Hause bei meiner (rentablen) Küngel- und Hühnerfarm hätte bleiben können.

Vom Handelsdipom

Statt einer kaufmännischen Lehre – wie vom Vater vorgeschlagen – trat ich mit 16 in die Handelsschule Olten ein und nahm um 05.58 den Zug nach Langenthal, wo ich umstieg. In Olten gab es damals noch keinen Maturabschluss. So packte ich mit 18 die Chance, als AFS-Exchange Student 1959 nach Lincoln, Nebraska, zu verreisen und nach einem Jahr als Honor-Student ein amerikanisches High-School Diplom zu erwerben. Dort habe ich erstmals erfahren, wie Top-Schüler nicht als Streber angeschwärzt, sondern wie Spitzensportler geehrt und geachtet werden. Auf der Rückreise wieder per Schiff durfte ich noch Präsident Eisenhower die Hand schütteln, musste aber zu Hause eine Klasse nachholen, um mit 20 das Handelsdiplom zu bekommen.

ins Gymnasium

Dem Vater und seinem Geschäft ging es aber bereits so schlecht, dass ich statt seiner Nachfolge ein Studium anvisierte. Dafür reichte aber weder das Diplom aus den USA noch das von Olten. Und Geld für eine Privatschule hatte ich keines. Durch einen Freund erfuhr ich, dass die Kantonschule Luzern Diplomanden aus (katholischen) Internaten eine Chance für den Eintritt in die 6. Gymnasiumklasse gab. Rektor Fischer empfing mich und sah kein Problem darin, mich probehalber aufzunehmen. Allerdings musste ich in Fächern wie Deutsch, Chemie, Physik und Mathe Sonderprüfungen nachholen, um definitiv in Klasse 7 zu kommen. Ein Jahr später schaffte ich mit 21 die Matura und erst noch mit der besten Gesamtnote beider Parallelklassen. Dabei hatte ich unter Berufung auf die Glaubensfreiheit auf das obligatorische Fach «Religion» verzichtet und damit den automatischen 6er geopfert.

und zum Studium

Dann ging es ab nach St. Gallen, wo ich nach 7 Semestern das Lizentiat erwarb und 1969 mit dem besten Doktorat des Jahres abschloss. Mein verehrter Lehrer, Prof. Adolf Jöhr, prüfte mich bei der mündlichen Lizentiats-Prüfung statt der vorgeschriebenen 20 Minuten mehr als doppelt so lange und liess mich die neusten Wachstumsmodelle von Harrod, Domar und Solow nicht nur an der Wandtafel erklären, sondern auch mit Bezug auf Keynes wachstumspolitisch vergleichen. Am Schluss der «Inquisition» entschuldigte er sich so: «Sie sind mir in Seminaren mehrfach aufgefallen; aber ich wollte ganz sicher sein, dass Sie alles genauso gut verstehen, wie Sie es verkaufen können». Er bot mir sofort eine der für die HSG insgesamt drei Assistenten-Stellen an. Nach dem Doktorat wollte ich endlich Geld verdienen; aber Jöhr bot mir ein Nationalfonds-Stipendium an, um eine akademische Karriere anzupeilen. Dieses «Geschenk»  lehnte ich ab und bewarb mich auf dem amerikanischen Markt für ein Postdoc-Research-Fellowship, das ich dann von der Carnegie-Foundation nach einer harten «Prüfung» in Paris auch bekam. Ich wollte das selber schaffen, um von niemandem abhängig zu werden. Und so kam ich im Gegensatz zu meinen Alterskollegen ins eher linke Yale und nicht nach Chicago oder Rochester.

Nach mehreren Monaten musste ich bei meinem Mentor (und späteren Nobelpreisgewinner) James Tobin antraben und meine Unterlagen vorlegen. Sein trockener Kommentar: «It’s O.K., but you can do much better than that»! Nach ein paar Schock-Tagen begann ich nochmals von ganz vorne. Aber den beiden Ansätzen von Jöhr und Tobin bin ich auch als Professor treu geblieben: In Seminaren und Prüfungen bohrende Fragen stellen und bei Seminararbeiten bis Dissertationen auf kritisch-konstruktives «Bessermachen» pochen, was heute unter Political Correctness bereits gefährlich wäre.

Berufung nach Basel

Die Berufung an die Universität Basel war auf Lebenszeit, und ich teilte die Ordinarien-Führung mit fünf Kollegen (Bombach, Bernholz, Frey, Hill und Guth). In den besten Zeiten hatten wir je drei Assistenten und grösste Lehrfreiheit. Die letzte Prüfung war die öffentliche Antrittsvorlesung, der die Nationalzeitung eine ganze Seite widmete. Ich konzentrierte mich programmatisch auf das Verhältnis von Ökonomie und Politik. Schriftliche und (auch für mich) anstrengende mündliche Abschlussprüfungen waren obligatorisch und zwangen die Studenten, Übersicht über das ganze Studium zu bewahren. Obwohl manchmal hart und konsequent, habe ich alle 50 Doktoranden in St.Gallen und Basel sowie ein gutes Dutzend Habilitanden zum Erfolg begleitet mit Methoden à la Jöhr, Tobin und Bombach. Ohne Prüfungen, selbst beim Doktorat mit Kollegen als Beobachter , wäre das wohl nicht möglich gewesen.Mündliche Prüfungen waren auch für mich zeitraubend und energieintensiv, aber im Vergleich zu den heutigen bürokratischen Leerläufen rund ums Doktorieren produktiv und kreativ.

Prüfungen sind mehr Chance als Last für Schüler und Studenten, vor allem für regional und sozial benachteiligte. In unserer Gegend betrug die Zahl der Gymnasiasten weniger als 5 %. Aber aus den 15 Knaben von 1957 in der Oltener Handelsschule promovierten später sage und schreibe 5 mit Doktorat, einer sogar in Physik. Wir alle waren nie regulär in einem Gymnasium, aber bestanden harte mehrtägige Maturaprüfungen. Prüfungen sind wie Sportwettkämpfe für alle gleich und somit so fair wie eben möglich. Unterschiedliche Begabungen sind nicht-diskriminierend. Der Ersatz von Prüfungen durch Erfahrungsnoten oder gar notenfreie Berichte ist daher nicht nur ein Rückschritt für die Wissenschaft, sondern auch für die Chancengleichheit. Die Corona-Krise – um jetzt doch noch darauf zurückzukommen – ist aber in den Augen von politisch korrekten Prüfungsgegnern ein Fortschritt, den sie weiterverfolgen wollen. Die Asiaten werden uns auch hier noch deutlicher als bei der Studienwahl distanzieren.

P.S. Jahrzehntelang hielt ich die obligatorische Eintrittsvorlesung mit anschliessender (wiederholbarer) Prüfung, die für das Weiterkommen entscheidend war. Die Durchfallquote von baselstädtischen Maturanden war knapp dreimal höher als die von Aargauern mit einer gut dreimal tieferen Maturaquote.

2 Kommentare

  1. … unsere 68er Generation verwünschte vor 50 Jahren die Prüfungen. Doch das Leben bringt laufend härtere Prüfungen – Vorstellungsgespräche, Aufträge skizzieren, Interviews geben, Präsentationen bringen: immer ohne die Gnade einer Repetition!

  2. Prüfungen schaffen den sanften bis harten Zwang, Wissen zu erwerben. Das tat ich gerne, freiwillig, war ab 12 Jahren wie ein trockener Schwamm… Wohl ganz wie Silvio.
    Doch hinzu kommt die Lebensklugheit, die man entwickeln muss: strategisch zu lernen, das Wichtige zu erkennen, auch das, was ein Hobby des Prüfenden oder der Institution ist. Neben dem Wichtigen auch zu merken, dass ein kleiner Wissens-Schnörkel abseits des Wichtigen als Zusatz guten Eindruck macht. Sodann: Nerven „in adversity“ nicht zu verlieren. Kurz, Prüfungen verlangen auch noch Fähigkeiten, die man sonst im Leben gut gebrauchen kann.

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