Inflation oder Deflation?

Co-Autor: Santiago Alvarez.

COVID-19 hat weltweit eine Rezession ausgelöst. Aber die Frage, ob wir uns momentan eher in einer Inflation oder einer Deflation befinden, ist nicht leicht zu beantworten. Aktuelle Statistiken  – namentlich der Landesindex der Konsumentenpreise – könnten in dieser Frage weiterhelfen. Doch während eines Lockdowns, in dem Tausende von Produkten gar nicht verfügbar sind, ist es schwierig, diese dringend benötigten Zahlen zu erheben.

Der Landesindex der Konsumentenpreise ist wichtig für wirtschaftspolitische Entscheide, da die Änderung des Preisniveaus unter anderem ein Indiz dafür ist, wie stark die Angebots- und Nachfrageschocks sind, welche aktuell sicherlich beide zum Rückgang der realwirtschaftlichen Aktivität beitragen. Sind die negativen Angebotsschocks grösser, dann sollten wir einen Anstieg des aggregierten Preisniveaus sehen. Sind hingegen die negativen Nachfrageschocks dominant, dann würden wir einen Rückgang des Preisniveaus erwarten.

Ist es überhaupt von Bedeutung, ob die Rezession nun aufgrund der fehlenden Nachfrage oder aufgrund des beschränkten Angebots eintritt? Ja, denn die richtige wirtschaftspolitische Therapie hängt genau von dieser Frage ab. Wie in der Medizin kann dasselbe Symptom aus unterschiedlichen zugrundeliegenden Krankheiten hervorgehen und die richtige Therapie für eine Diagnose mag genau die falsche Therapie für eine andere sein, trotz ähnlicher Symptome. Gegen einen Nachfrageschock wären zum Beispiel nachfragestimulierende Konjunkturprogramme oder eine Lockerung der Geldpolitik geeignete Medikamente. Bei einem Angebotsschock hingegen würden diese Instrumente lediglich zu Inflation führen und hätten auf die Realwirtschaft relativ geringe Effekte.

Um das Dilemma der fehlenden Statistik zu lösen, haben wir einen Preisindex auf Tagesbasis berechnet, der die Bewegungen des Preisniveaus in Echtzeit beobachtet (siehe Paper für Details). Er umfasst einige Kategorien des Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) und basiert auf Preisdaten von Websites verschiedener Online-Shops, welche Santiago Alvarez schon seit 2018 mit sogenannten scraping tools sammelt. Dies ist vor allem während des Lockdowns interessant, da in dieser Zeit viele Konsumentenausgaben ausschliesslich online getätigt werden konnten. Wir kombinieren die Preise mit Gewichtungen der im LIK enthaltenen Güterkategorien und berechnen deren Veränderungen mit Informationen zu Debitkartenausgaben nach Güterkategorie (siehe http://monitoringconsumption.org/switzerland). Unsere damit berechnete tägliche Preisreihe zeigt einige interessante Muster.

Wir können erstens zeigen, dass unser Preisindex in den Monaten vor der Krise den LIK relativ gut widerspiegelt hat, auch wenn wir nur 24 % des LIK Warenkorbes durch die online Preise ersetzen (Grafik 1). Natürlich schwanken die Preise auf Tagesbasis stärker als die des LIK auf Monatsbasis. Teile des Warenkorbes, wie zum Beispiel Mieten (20% des Warenkorbes), bleiben in unserem Index wie im LIK publiziert enthalten, da wir nicht davon ausgehen, dass sie auf Tagesbasis stark schwanken und da sie während des Lockdowns auch erhoben werden konnten.

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Grafik 1: In Blau der Preisindex auf Tagesbasis. In Rot gestrichelt der LIK wie vom BFS publiziert. Die drei vertikalen Linien zeigen das Datum des Lockdowns (16.3.) und die beiden ersten Phasen der Lockerungen (27.4. und 11.5.).

Zweitens können wir sehen, dass der LIK auf Tagesbasis genau zum Lockdown sinkt (Grafik 2). Diese wie wir sagen «hochfrequente» Datenreihe legt den Schluss nahe, dass der Rückgang des Preisniveaus, der im LIK erst in den Aprildaten sichtbar ist (Publikation Anfang Mai), durch den Lockdown bedingt wurde. Auch der Rückgang am aktuellen Rand ist bisher nicht in den LIK Daten zu sehen. Ursache dafür sind wahrscheinlich die saisonalen Ausverkäufe, die dieses Jahr häufiger sind.

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Grafik 2: Der Preisindex auf Tagesbasis vor, während und nach dem Lockdown (blau) und der monatliche LIK (rot gestrichelt).

Drittens können wir die Bewegungen des Preisniveaus mit der Entwicklung der relativen Debitkartenausgaben der Konsumenten in verschiedenen Sektoren während der Lockdownperiode vergleichen. Dies ist informativ, weil verschiedene Sektoren unterschiedlich stark von Angebots- und Nachfragerückgängen betroffen sind. Wir sehen in Grafik 3, dass der Preisrückgang vor allem im Detailhandel (ohne Nahrungsmittel, Getränke & Tabak) stark war, der gleichzeitig auch einen relativ grossen Rückgang der Ausgaben aufweist (ca -50%). Eine ähnliche Entwicklung, wenn auch weniger ausgeprägt, zeigt der Sektor «Verkehr». Diese Bewegungen – sinkenden Preise und noch stärker sinkende Ausgaben – gehen typischerweise mit einem negativen Nachfrageschock einher. Am prägnantesten ist der Ausgabenrückgang in den Sektoren «Hotels und Restaurants» sowie «Freizeit und Kultur». Auch hier sinken gleichzeitig die Preise, allerdings weniger stark als in den oben genannten Sektoren. Im Sektor «Dienstleistungen» schliesslich gehen die Ausgaben bei fast unveränderten Preisen zurück. Dies würde darauf hindeuten, dass sich in diesem Bereich die Nachfrage- und Angebotsschocks in etwa die Waage halten. Im Sektor «Nahrungsmittel, Getränke & Tabak», welcher vom Lockdown weniger betroffen war, nahmen die Ausgaben sogar zu, während die Preise stabil blieben. Dies würde auf eine etwa ähnliche Ausweitung der Nachfrage und des Angebots in diesem Sektor hinweisen.

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Grafik 3: Veränderung der Preise und Ausgaben nach Kategorien (log-Differenzen).

Als vorläufiges Fazit lässt sich sagen, dass aktuell sowohl Nachfrage- als auch Angebotsschocks aktiv sind, welche beide zum grossen Rückgang der realwirtschaftlichen Aktivität beitragen. Der leichte Rückgang des Index zu Beginn des Lockdowns lässt auf einen etwas grösseren Effekt der Nachfrageschocks zu Beginn schliessen, was sich aber mit den derzeitigen Bedingungen auch schnell wieder ändern kann. Gerade deshalb ist ein Preisindex auf Tagesbasis als Frühindikator ein hilfreiches Tool.

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