Universitäten in Corona: zwei Fälle von Komplexitätsreduktion

Mittel- und langfristig zeigen sich im Hochschulbereich zwei durch die Pandemie zugespitzte Entwicklungstrends. Universitäre Lehre wird durch Digitalisierung und open Science zu einem öffentlich breit zugänglichen Gut, das entsprechend vermarktet werden kann. Gleichzeitig eröffnen sich neue Risiken für das bisher erfolgreiche Modell der Public Privat Partnership.        

1. Man darf sich ruhig auf die Schulter klopfen. Universitäten sind bisher gut durch die Coronakrise gesegelt. Sozusagen über Nacht haben wir auf online-Lehre umgeschaltet und sind dabei institutionsökonomisch dem Prinzip der Komplexitätsreduktion gefolgt: Der Digitalisierungsschub führt zu einer Reduzierung der akademischen Lehre auf die Vermittlung von Inhalten (unter weitgehender Ausblendung der im analogen Modus genauso relevanten, interaktiven Betreuungskomponente), fördert dafür den technologischen Unternehmergeist. Der individuelle Unterrichtsstil wird ersetzt durch verschiedene Formen hybriden Umgangs mit der digitalen Innovation. Somit ist der beste Professor nicht mehr jener, der in seiner Vor-Lesung Geschriebenes am klarsten und attraktivsten formuliert, sondern jener, der in seinem Webinar bildlich Vermitteltes am klarsten und attraktivsten online projiziert.

Der mit Komplexitätsreduktion einhergehende Informationsverlust, der sich etwa darin zeigt, dass unsere Studierenden mit emotionalem Stress reagieren und Freisemester einlegen, ist vergleichbar mit dem Übergang von der Universität der Handschriften zu jener der Bücher nach der Erfindung des Buchdrucks. In der Frühen Neuzeit entstand ein neuer Typ von Professor, der nicht wie sein mittelalterlicher Vorgänger mit seinen eigenen Handschriften von Universität zu Universität reiste, sondern der für seine Vorlesungen die Bücher in der Bibliothek verwendete. Je reichhaltiger die Bibliothek, desto besser die Universität und deren Professoren.

Der Übergang vom Seminar zum Webinar lässt eine neue Form akademischen Wettbewerbs entstehen. Seit der Entlassung der europäischen Universitäten in die betriebliche Autonomie spielen institutionelle Transaktionskosten eine zentrale Rolle. Die Folge davon ist das Outsourcing von Dienstleistungen (Catering, Reinigung), die nicht zu den Kernaufgaben der Universität gehören. Oder besser: nicht gehören sollen, denn bis vor kurzem gab es an Universitäten mehr Pförtner als Professoren, dafür keine Bau- oder Finanzfachleute.

Lehre und Forschung betrachten wir historisch als die zwei Kernaufgaben der Universität. Zunehmend führen jedoch ökonomische Erwägungen (Quantifizierbarkeit, Diversifizierung der Einnahmen, Rankings, soziopolitischer Rückhalt, usw.) zur Priorisierung von Forschung und Innovation und zur Posteriorisierung der Lehre. Die digitale Transformation beschleunigt diese Entwicklung durch den Übergang vom individuellen wissenschaftlichen Wissen der Bibliotheken zum sozialen Wissen der open science, die jeden Nutzer durch drei Mausklicks in die Nähe einer nobelpreisverdächtigen Information führt. Somit könnte man die institutionsökonomische Entwicklung der Universität als eine allmähliche Emanzipation von der Lehre lesen: (a) nur Lehre in der mittelalterlichen Universität, (b) Lehre und Forschung von Humboldt bis Bologna, (c) Lehre, prioritär aber Forschung und Innovation in der jetzigen Universität, (d) Outsourcing der Lehre, Fokus auf Forschung und Innovation als institutionelle USP im digitalen Zeitalter.

Outsourcing der Lehre: Während man bis vor einem Jahr unter der Herrschaft der Vorlesung die Produktion eines MOOC als aufwendigen institutionellen Prozess betrachtete, der – wie bei einer mittelalterlichen Handschrift – einer technologischen und kommunikationstheoretischen Schulung bedurfte (und dessen Einsatz sich deshalb kaum lohnte, ausser zum Zwecke der institutionellen Sichtbarkeit) hat die Coronakrise zu einer Demokratisierung der online-Lehre geführt. Jetzt unternimmt jede Professorin ihren kreativen Versuch, sich im digitalen Raum wettbewerblich zu behaupten. Es ist leicht prognostizierbar, dass Universitäten künftig im Wettbewerb um die besten globalen Forschungs- und Innovationsköpfe konkurrieren, während die Lehre von anderen Professorinnen angeboten wird, die von Universität zu Universität reisen und ihre hybriden Produkte digital und in Präsenz anbieten. Der künftige Studiendekan würde damit zum Makler hybrider Webinar-Angebote werden.

2. Dass die Pandemie als Katalysator institutionsökonomischer Transformation fungiert, die uns mit neuen Formen von akademischem Markt konfrontiert, zeigt sich auch an der momentanen Krise des Modells der Public Private Partnership. Seit Mazzucato’s Entrepreneurial State (2011) wird erfolgreiche Innovation als Ergebnis gleichzeitig öffentlicher und privater Investitionen angesehen. Das Modell basiert auf dem Postulat einer Erweiterung der jeweiligen Kernaufgaben: Bei der Förderung eines auf Innovation ausgerichteten Ökosystems beschränkt sich der Staat nicht mehr minimalistisch auf eine regulierende Rolle à la John Stuart Mill, sondern tritt als Investor auf; einen beträchtlichen Anteil an der Entwicklung des iPhone zum Beispiel haben neben dem privaten Sektor (Apple) auch die universitäre Forschung (Stanford) und die öffentliche Finanzierung (etwa durch das Department of Defense).

Nun reizt aber die Pandemie die Grenzen dieses Modells aus und reduziert dessen strukturelle Komplexität. Durch die gesicherte Aufrechterhaltung ihrer Finanzierung sind öffentliche kontinentaleuropäische Universitäten, die nicht um Studierende zu konkurrieren brauchen, praktisch die einzigen Institutionen in der Welt der Innovation geblieben, die keinen finanziellen Schaden erleiden. Durch die Intervention des EU-Parlaments wird die staatlich geförderte kompetitive Forschung unter Horizon Europe in den kommenden sieben Jahren das Niveau des Vorgängerprogrammes Horizon 2020 übersteigen. Während etliche F&I-Akteure im privaten Sektor an den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie leiden (und teilweise scheitern) wird staatlich finanzierte Innovation sogar ausgebaut, wie dies von Neugründungen wie der TU Nürnberg oder der TU Linz gezeigt wird.

Viel schlechter geht es derweil privaten Institutionen (in den USA, im UK, aber auch kontinentaleuropäischen Universitäten, wie jener, die ich zurzeit leite), die unter zwei Folgen der Pandemie leiden: Reisebeschränkungen und geringe finanzielle Liquidität für Studiengebühren. Und hier bewirkt die Komplexitätsreduktion Symmetrisches: der Staat schränkt bestehende public-private Vereinbarungen ein und verfolgt eine Privatisierungsstrategie. Während bis vor kurzem eine public-private Assoziierung an das öffentliche Hochschulwesen avisiert war, sucht der Staat jetzt globale Investoren. Sowohl im Sinne eines unternehmerischen Staats als auch im Hinblick auf das lokale Ökosystem kommt dies einem Verzicht auf Innovationspotential und einem Informationsverlust gleich. Dass es unter einer linken Regierung dennoch passiert, mag nur prima facie befremden, entspricht jedoch dem institutionsökonomischen Prinzip von entideologisierten shared mental models (Douglass North – Arthur Denzau, Kyklos 47, 1994), die letzten Endes von technologischer Innovation herbeigeführten werden.

Es findet also zurzeit eine Art systemische Flurbereinigung statt: in Krisenzeiten werden öffentliche Institutionen immer öffentlicher, indem sie auf einen Teil ihrer Autonomie, d.h. auf die Möglichkeit der Kombination von Finanzquellen verzichten, private Institutionen hingegen werden immer privater, indem ihnen die Partnerschaft mit dem öffentlichen Sektor erschwert wird. Es bleibt abzuwarten, ob diese Flurbereinigung, wie auch die vorher angesprochene Hybridisierung der akademischen Lehre, als krisenbedingte, punktuelle Erscheinungen auftreten oder aber nachhaltig neue marktwirtschaftliche Perspektiven erschliessen.

2 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für Deinen Kommentar, lieber Yvan! Eigentlich erkenne ich in Deinen Worten – geschweige denn in Deiner Erwartung einer Fortsetzung des online-Trends – überhaupt keinen Dissens. Die digitale Reduzierung der Lehre auf die Vermittlung von Inhalten stellt sozusagen die anfängliche Mangelsituation dar, die von den Einschränkungen im interpersonellen Bereich herbeigeführt und durch den individuellen unternehmerischen Geist – etwa von Dozierenden wie Du – behoben wird, indem eine neue akademische Lehre entsteht, welche die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse der Digitalen Wende einbezieht.
    Und was die von uns beiden (wie hoffentlich von vielen von uns) mit Bedauern festgestellte Verarmung im „studentischen Leben“ angeht: Ich gehe davon aus, dass auch die Modalitäten der sozialen Interaktion durch die digitale Transformation nachhaltig verändert werden – freilich etwas langsamer als die Anwendung der rein technologischen Innovation. Auch hier ein Beispiel aus der Geschichte: die Studenten der mittelalterlichen Universität waren „clerici“, d.h. Kirchenmänner, jene der neuzeitlichen Universität „studentes“, d.h. im Grunde Streber. Das verrät viel über die mutierte zugrundelegende Interaktion zwischen ihnen…

  2. Lieber Antonio,

    Herzlichen Dank für diesen vorausschauenden Artikel. Der Digitalisierungsschub, den wir erleben, wird mit Sicherheit den Wettbewerb zwischen Bildungsinstitutionen massiv verstärken. Geographische Distanz wirkte bis anhin als natürliche Wettbewerbsbeschränkung, gewissermassen als protektionistischen Schutz. Wenn die Kurse aber generall online sind, dann spielt es keine Rolle, ob Sie vom Wohnzimmer des Professors in Basel oder vom Wohnzimmer des Professors in Kalifornien stammen. Die Universitäten sollten sich diese Herausforderung bewusst machen.

    In einem Punkt möchte ich Dir aber widersprechen. Du sagst, „Der Digitalisierungsschub führt zu einer Reduzierung der akademischen Lehre auf die Vermittlung von Inhalten.“ — ganz und gar nicht!

    Die Umstellung auf digitale Lehre erfordert Einiges für die verantwortlichen Dozierenden. Eine konventienelle Veranstaltung kann nicht tel quel auf digital umgestellt werden; das kann kaum funktionieren. Aber das online Format bietet Chancen, die der normale Unterricht nicht bietet.

    Ich stelle fest, dass Studierende am Bildschirm eine deutlich geringere Hemmschwelle zur Partizipation habe. Natürlich muss man das, wie auch im konventienellen Unterricht, einfordern. Aber es ist viel einfacher. Studierende können problemlos Ihre Vorbereitungen mit dem Publikum über „screen share“ teilen. Die Interaktion ist generell viel lebhafter und alle Teilnehmenden erhalten direkten Einblick, welche Schwiergkeiten ihre KommilitonInnen haben. Das ermutigt den einen oder anderen, halb-ausgegohrene Gedanken mit allen zu teilen, und so zusammen weiter zu kommen.

    Meine persönliche Erfahrung mit Online-Unterricht ist generell positiv. Selbstverständlich fehlen die direkten sozialen interaktionen. Das „studentische Leben“ verkümmert. Aber bezüglich der Entwicklung der Didaktik habe ich an der Pandemie nichts aussetzen.

    Ich hoffe sehr, dass die Pandemie bald vorbei ist, aber hoffe ebenfalls, dass die Digitalisierung des Unterrichts bestehen bleibt. Dann hätte Corona, trotz allem, auch etwas Gutes hinterlassen. Online unterrichten ohne dazu gezwungen zu sein — dieser Weg steht uns wohl bald offen.

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