Leidet unser gegenseitiges Vertrauen unter Long Covid?

Misst man die Präsenz der COVID-19 Pandemie am Anteil der Personen, welche im Alltag Masken tragen, könnte man in der Schweiz zum Schluss kommen, dass die Pandemie dem Ende zugeht, ja eigentlich schon passé ist. Dies gilt allerdings nicht für viele andere Länder — insbesondere nicht für China, wo das tägliche Leben durch staatliche Einschränkungen (immer noch) extrem eingeschränkt wird. Ich vertrete in diesem Beitrag die These, dass die Auswirkungen der Covid-Pandemie präsenter sind als wir warnehmen und wohl noch länger spürbar sein werden als wir je erwartet haben. Und zwar auch dann, wenn das Virus selbst sogar verschwinden würde. Ein Long Covid-Effekt – allerdings anders interpretiert.[1]

Die Welt befindet sich in einer schwierigen Situation. Stark beschäftigt uns seit nun mehr als zwei Monaten der Krieg in der Ukraine. Er verursacht immenses Leid, riesige Kosten für Europa und die ganze Welt und bedrückt uns alle; es drohen noch grössere Lieferengpässe, Hungersnöte und vielleicht noch Schlimmeres. Wir können uns das alles in der heutigen globalisierten Welt eigentlich gar nicht leisten.

Aber auch «im Kleinen» funktioniert vieles nicht mehr so gut. Immer öfter wird in den Medien von Firmen berichtet, in denen sich unter den Mitarbeitenden Unzufriedenheit breit zu machen scheint. Kürzlich hörte man dies von der SWISS — einer Firma, in der die Mitarbeitenden traditionell eine sehr hohe Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber zeigten. Auch unsere Fakultät kann ich von diesem Trend nicht ausnehmen. Meinungsverschiedenheiten bei Entscheiden scheinen generell zu- und das Verständnis füreinander tendenziell abgenommen zu haben. Die kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen in Frankreich weisen darauf hin, dass sich der Graben zwischen Links und Rechts vertieft hat und man sich je länger je weniger einig ist – dies in einem Land, das sich «Liberté», «Egalité» und «Fraternité» auf die Fahne geschrieben hat. Und auch in der Politik in der Schweiz nehmen die Divergenzen meines Erachtens zu – man denke an die Neutralitäts-  oder die Europapolitik, die Umweltpolitik und generell an die Aussenwirtschaftspolitik.

Als ich kürzlich im Basler Tram sass nahm ich folgende Aussage auf einem dieser kleinen Plakate wahr. Ich traute meinen Augen nicht, als ich folgendes las:

„Sie wollen einsteigen? Knopf drücken nicht vergessen. Dangge.“

Zuerst dachte ich: Muss man heute den Leuten nun gar erklären, wie man in ein Tram steigt? «Bitte Knopf an der Türe drücken». Wo sind wir da hingekommen, ging es mir durch den Kopf? Als zweiter Gedanke (und dies erst etwas später) wurde mir dann klar, dass sich die Leute während zwei Jahren Pandemie wohl daran gewöhnt haben, dass sich die Türen automatisch öffnen. Mit der Nachricht auf dem Plakat will man sie nun wieder an den Standard der Vor-Corona Zeit zurückführen. Sie müssen wieder etwas lernen, was sie in der Zwischenzeit vergessen haben. Das unscheinbare Plakat im Tram beinhaltet damit eine grundlegende Erkenntnis: Dinge, die vor Ausbruch der Corona-Epidemie selbstverständlich waren, sind es heute und auch nach Corona möglicherweise nicht mehr.

Damit hat die Pandemie — oder wie wir damit umgegangen sind – wohl noch ganz andere und negativere Konsequenzen als man oberflächlich wahrnehmen könnte. «Long-Covid» — anders interpretiert.

Die sparsamen persönlichen Interaktionen während zweier Jahre und die Unmöglichkeit, sich insbesondere im professionellen Leben bei einem ungeplanten Treffen spontan gegenseitig zu informieren, auszutauschen und zu hinterfragen, förderte die Abschottung und ging zu Lasten des gegenseitigen Vertrauens. Die Toleranz gegenüber anders denkenden Personen bzw. Kollegen und Kolleginnen nahm ab. Zwei Jahre lang musste man sich weniger rechtfertigen oder erklären, da spontane Begegnungen mit unerwartet auftauchenden Gesprächspartnern im Zoom-Zeitalter kaum mehr stattfanden. Dabei haben wir etwas verlernt, was für uns vorher selbstverständlich war. Wie das Drücken des Knopfes vor dem Einsteigen in das Tram. Wir haben verlernt, offen und kompromissbereit aufeinander zuzugehen.

Diese Folgerung ist kompatibel mit den Ergebnissen aus einem aktuellen Forschungsprojekt, an dem ich zusammen mit einem Kollegen aus den USA und einem ehemaligen Doktoranden arbeite:[2] Unser Experiment im Labor weist unter anderem darauf hin, dass es extrem schwierig ist, kooperatives Verhalten zwischen Individuen zu erzeugen, wenn keine gute Basis für die Entwicklung von gegenseitigem Vertrauen besteht. Auch eine Erhöhung des erwarteten Payoffs ändert daran kaum etwas. Entscheidend für das Verhalten und die Akzeptanz eines bestimmten Umfeldes sind vielmehr die persönlich gemachten Erfahrungen.

Was schliesse ich daraus? Die zunehmenden Probleme unserer Zeit, der zum Teil überraschende Ausgang von Wahlen, die sich vergrössernden Meinungsunterschiede zur Wirtschaftspolitik und das Auseinanderdriften innerhalb von verschiedenen Institutionen und Organisationen sind so gesehen zu einem gewissen Teil zurückführbar auf die über zwei Jahre wirkende Pandemie. Die Entwicklungen sind teilweise eine Folge der staatlich verordneten oder frei gewählten Isolation über lange Zeit. Eine Art «Long-Covid-Effekt» auf den vertrauensbildenden interpersonellen Austausch. Zwar wurden Sitzungen und virtuelle Treffen auf allen Ebenen regelmässig abgehalten. Was jedoch fehlte, ist das spontane Treffen, bei dem man kurz die eigene Position austesten und aufgrund der Rückmeldung der getroffenen Person überprüfen oder anpassen konnte.

Das bedeutet, dass wir uns alle – von den Staatsoberhäuptern über Managerinnen und Mitarbeiter bis zu den Bürgerinnen — unbedingt wieder vermehrt treffen und austauschen müssen. Und zwar dürften meines Erachtens die spontanen Treffen quer durch alle Ebenen von Organisationen und Institutionen eine erhebliche Bedeutung haben. Nur so wird es möglich sein, die Long Covid-Effekte auf den vertrauensbildenden, interpersonellen Austausch in ihrer Wirkung zu beschränken. Davon dürften dann auch die Entscheidungsprozesse, die Entscheide und das Betriebsklima profitieren.


[1] Eine Kurzversion dieses Beitrags war Teil der Begrüssung an der  Diplomfeier der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel vom 29. April 2022.

[2] Gabriele Camera, Lukas Hohl und Rolf Weder (2022), “Inequality as a Barrier to Economic Integration? An Experiment”(mimeo).

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