Co-Autorin: Elisa Gerten.
Zwischen Ende Januar (China) und Anfang April 2020 (USA) haben die Staatsoberhäupter vieler Länder auf dem asiatischen, dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent einen Lockdown aufgrund von COVID-19 ausgerufen. Nur kurze Zeit später haben Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Homeoffice oder in Kurzarbeit geschickt. Viele Arbeitnehmer, denen diese Möglichkeiten nicht geboten werden können, haben in der Folge des Lockdowns ihren Arbeitsplatz verloren. Sofern Unternehmen ihr Geschäft fortführen konnten, wurden Arbeitsprozesse rasch digitalisiert, technische Mittel bereitgestellt und Führungsstrukturen an die neue Arbeitsrealität angepasst. Ein genauerer Blick auf die Statistiken zeigt jedoch nicht nur die Zunahme von Homeoffice-Aktivitäten oder Kurzarbeit. Im Schatten von Homeoffice und Kurzarbeit hat auch eine Arbeitsform sprunghaft zugenommen, die heute nicht mehr völlig neu ist, die aber das Potential hat, Arbeitsverhältnisse wie wir sie heute noch kennen, in vielen Bereichen infrage zu stellen. Die Rede ist von plattformbasierter Erwerbsarbeit auf Online-Arbeitsmärkten.
Die Abbildung zeigt für die deutsche Arbeitsplattform Clickworker GmbH die Entwicklung der neu registrierten Nutzer (weltweit, USA, Deutschland) zwischen der 40. Kalenderwoche 2019 und der 16. Kalenderwoche 2020.
Am 18. Januar 2020 wurden in diversen Medien die ersten Infektionen mit Lungenkrankheit in China gemeldet. Ende Januar kam es dann zum Lockdown in Wuhan. Mitte März folgte der Lockdown in Deutschland. Anfang April entschloss sich schliesslich auch der amerikanische Präsident Donald Trump zu einem Lockdown für die USA. Die Abbildung zeigt, dass die jeweiligen Online-Arbeitsmärkte stark auf den einberufenen wirtschaftlichen Stillstand reagierten. In allen betrachteten Regionen ist um den Zeitpunkt des Lockdown-Beginns ein sprunghafter Anstieg bei den neu registrierten Nutzern festzustellen. Offensichtlich gibt es also einen positiven Zusammenhang zwischen den verhängten Lockdowns zum Zweck der Reduktion der COVID-19 Infektionen und einem wachsenden Interesse an einer Tätigkeit, die über eine Online-Plattform vermittelt und gegebenenfalls auch online durchgeführt wird. Wie kann man diesen Befund erklären? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, macht es Sinn, sich zunächst etwas genauer mit dieser neuen Arbeitsform ‘plattformbasierte Erwerbstätigkeit’ auseinanderzusetzen.
Die Gig-Ökonomie – eine Art Oberbegriff für plattformbasierte Arbeit auf Online-Arbeitsmärkten – zeugt von einer Revolutionierung traditioneller Beschäftigungsverhältnisse. Die unabhängige Arbeit – der «Gig» – ist durch einen hohen Autonomiegrad seitens Auftraggeber, eine direkte Bezahlung nach Auftragserfüllung und eine eher kurzfristige Beziehung zwischen Auftraggeber und -nehmer charakterisiert. Als Hauptauftraggeber solcher «Gigs» zählten bislang selbständige Unternehmer, Inhaber von Kleinunternehmen sowie Beratungs- und Zeitarbeitsfirmen. Dies könnte sich nun ändern. Leicht bedienbare Apps, eine attraktive UX (User Experience) und schnell vermittelbare Aufträge an eine anonyme Masse potentieller Auftragnehmer – die «Crowd» – verleiten viele Unternehmen vermehrt dazu, das noch recht neue plattformbasierte Arbeitsmodel auszuprobieren. Sie lagern Tätigkeiten aus, für deren Erledigung grundsätzlich auch die eigene Belegschaft infrage kommt, indem sie Aufträge über eine Online-Plattform vermitteln lassen und schliesslich an einzelne Mitglieder der Crowd vergeben. Analog zu Outsourcing-Entscheidungen treffen Unternehmen hier also eine Make or Buy-Entscheidung zugunsten der Buy-Alternative. Aus diesem Grund wird für diese Unternehmensstrategie auch der Begriff Crowdsourcing verwendet, während die unabhängigen Auftragnehmer auch als Gig-Worker oder Crowdworker bezeichnet werden. Insbesondere in Krisenzeiten könnten also vermehrt einfache Arbeiten und Routinetätigkeiten an eine grosse Masse unabhängiger Erwerbspersonen, aber auch komplexe Nicht-Routinetätigkeiten an genau den richtigen Online-Experten ausgelagert werden; und dies zudem schnell und günstig.
Die Gig-Ökonomie bietet jedoch nicht nur Vorteile, sondern birgt auch Gefahren. Da Arbeitskräfte auf Plattformen typischerweise als unabhängige Selbständige und nicht als angestellte Arbeitnehmer behandelt werden, sind sie selbst für ihre soziale Absicherung verantwortlich. Dies kann ziemlich kostspielig und zeitintensiv sein. Zudem gibt es keine Interessenvertretung der Crowdworker auf den Plattformen. Stattdessen gibt es unter den Crowdworkern einen intensiven globalen Wettbewerb um die ausgelagerten Tätigkeiten mit der Folge, dass die Löhne für Crowdworker oft eine Abwärtsspirale nach unten antreten und sich schliesslich auf einem (für europäische Verhältnisse) extrem tiefen Niveau einpendeln. Wenn es Gewerkschaften auf Online-Arbeitsmärkten geben würde, dann würden deren Vertreter hier sicherlich von einer Ausbeutung der Crowdworker durch die Auftraggeber und die Betreiber der Plattformen sprechen.
Crowdworking hat somit unbestritten das Potential, prekäre Beschäftigung zu fördern. Andererseits zeigen jüngere empirische Studien, dass sich unter den Crowdworkern auch viele Personen befinden, die Crowdworking als Nebenbeschäftigung und somit als eine Möglichkeit des Zuverdienstes zusätzlich zum Lohn aus ihrer Haupterwerbstätigkeit oder als willkommene Abwechslung bzw. Ergänzung zu ihrem Hauptberuf verstehen. Diese Personen verfügen also in ihrem Hauptberuf über unterausgelastete Kapazitäten. Ein Lockdown, der mit Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit einhergeht, verstärkt diese Situation von heute auf morgen. Es ist also zum einen eine wirtschaftliche Notlage, die Erwerbspersonen in einem Normalarbeitsverhältnis dazu bringen kann, eine Tätigkeit auf einem Spot-Arbeitsmarkt zu suchen. Zum anderen sind es Eigeninitiative und persönliches Engagement, die einen regulär beschäftigten Arbeitnehmer zusätzlich zu einem Crowdworker werden lassen, und der Lockdown schafft hierfür die zeitlichen Voraussetzungen.
Jedoch zeigt es sich, dass Einkommenseinbrüche auf realen Arbeitsmärkten – oder die nahende Gefahr solcher Einbrüche – dazu führen kann, dass sich vermehrt Erwerbstätige nach einem Job auf den digitalen Arbeitsplattformen umschauen. Eine jüngst an der Professur für Personal und Organisation durchgeführte Befragung unter erwerbstätigen Frauen auf Clickworker GmbH zeigt, dass Frauen in der Corona-Krise die neue Arbeitsform nicht nur wegen der gewonnenen Flexibilität schätzen, sondern weil diese es erst ermöglicht hat, sowohl der Kurzarbeit entgegenzutreten als auch sich um pflegebedürftige Familienmitglieder zu kümmern. Somit lohnt es sich, sich für faire Arbeitsbedingungen und Löhne für Crowdworker sowie für gemeinschaftliche Interessenvertretungen auf digitalen Arbeitsplattformen einzusetzen und diesen Weg wirtschaftlich, juristisch als auch sozial-gesellschaftlich aufzubereiten. Die COVID-19 Krise zeigt uns allen und insbesondere auch den Skeptikern in den Führungsetagen von Unternehmen nicht nur, dass die Arbeit im Homeoffice ein gut funktionierendes Instrument der Arbeitsorganisation sein kann. Sie zeigt uns auch, dass die unabhängige Arbeit der Gig Ökonomie in Krisenzeiten, in welchen wir an das Modell der Arbeit im Homeoffice gebunden sind, an Bedeutung zunimmt; mit all ihren Möglichkeiten, aber auch mit all ihren Problemen.