Die zweite COVID19-Welle muss gebrochen werden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems und stark steigende Todeszahlen zu verhindern. Darin sind sich wahrscheinlich viele einig. Einigkeit haben kürzlich in einem offenen Brief auch viele Schweizer Ökonominnen und Ökonomen darin gezeigt, dass ein Schutz der Gesundheit letztlich auch dem Schutz der Wirtschaft dient. Hohe Fallzahlen, wie wir sie derzeit haben, schaden dem für die Schweiz wichtigen Tourismus. Sie führen zu hohen Ausfällen von Arbeitskräften durch Krankheit und vor allem Quarantäne. Sie schaffen ein Klima der Unsicherheit, das den Konsum und vor allem Investitionen schwächt, und sie gefährden Lieferketten. Das bedroht die Existenz vieler Unternehmen und die Arbeitsplätze ihrer Beschäftigten.
Nach Ansicht der unterzeichnenden Ökonominnen und Ökonomen muss die Pandemie in der Schweiz deshalb schnellstmöglich durch geeignete Massnahmen unter Kontrolle gebracht werden. Zum einen sprechen sie sich für einen konsequenten Ausbau der Testinfrastruktur und des Contact-Tracing aus. Zum anderen fordern sie einen Lockdown in Verbindung mit fiskalischen Unterstützungsmassnahmen, um wirtschaftliche Schäden abzufedern. Sie lassen jedoch offen, welches Ausmass und welche Dauer ein solcher Lockdown haben soll.
Auch ich habe diesen Brief unterzeichnet. Weil es wichtig ist klar zu machen, dass es keinen allgemeinen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit gibt. Weil ein Ausbau der Testinfrastruktur und des Contact-Tracing für die noch kommenden Herbst- und Wintermonate essenziell ist. Und weil ein schnelles Brechen der zweite COVID19-Welle unerlässlich ist.
Gleichzeitig ist es nun aber wichtig, auch die Diskussion über die konkrete Ausgestaltung eines solchen Lockdowns zu führen. Natürlich wäre ein komplettes Herunterfahren aller Aktivitäten, die zu sozialen Kontakten führen, die geeignetste Massnahme, um Neuansteckungen zu verhindern. Aber die Verhältnismässigkeit solch umfassender Restriktionen darf zu Recht angezweifelt werden. Die sehr berechtigte Frage ist daher, welche Eindämmungsmassnahmen denn nun ergriffen werden sollten.
Wir wissen heute viel mehr über COVID19 und seine Verbreitung als im Frühjahr, wo uns diese Pandemie völlig unvorbereitet getroffen hat. Auch mangelt es diesmal nicht an Schutzausrüstung. Die kürzlich zugelassenen Schnelltests ermöglichen zudem eine Anpassung der Test- und Quarantänestrategien. Diese Möglichkeiten und dieses Wissen sollten wir nutzen.
Die Massnahmen sollten dort ansetzen, wo viele Ansteckungen verhindert werden können. Dies erfordert einerseits systematische Testungen verbunden mit einem effektiven und effizienten Contact-Tracing. Andererseits braucht es eine systematische Auswertung der daraus gewonnenen Daten als Entscheidungsbasis. Viele Unternehmen und Institutionen haben in teure Schutzkonzepte investiert und diese Bemühungen müssen honoriert werden. Durch das Contact-Tracing muss geklärt werden, wo diese Schutzkonzepte funktionieren und wo nicht. Wir müssen sicherstellen, dass wir aus den bisherigen Erfahrungen lernen und dieses Wissen konsequent nutzen, um die Zielgenauigkeit der Massnahmen ständig zu verbessern und so die Balance zwischen Eignung und Verhältnismässigkeit der Massnahmen herzustellen.
Wir stehen erst am Anfang einer mehrmonatigen Kälteperiode. Es kann keine Lösung sein, diese in einem langen oder ständig wiederkehrenden strengen nationalen Lockdowns zu verbringen. Kurzfristig sollte das Ziel sein, die Kontrolle über die Pandemie zurückzugewinnen und das Contact-Tracing wieder handlungsfähig zu machen. Dabei gilt es abzuwarten, ob die kürzlich verhängten kantonalen Lockdowns in der Westschweiz zusammen mit den Massnahmen des Bundes bereits ausreichen. Doch gleichzeitig müssen das vorhandene Wissen und die sich ständig verbessernden Möglichkeiten jedoch auch genutzt werden, um Massnahmen zu implementieren, die nachher auch über Monate durchgehalten werden können. Zudem braucht es Mut zu neuen Lösungen. Die Unterstützung des Contact-Tracing durch Personal der SWISS ist ein Beispiel. Noch immer sind Tausende von Beschäftigten von Kurzarbeit betroffen. Dieses Potenzial könnte stärker genutzt werden, um das Contact-Tracing zu unterstützen. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei der Kurzarbeiterentschädigung bieten hierfür sogar finanzielle Anreize. Die Möglichkeiten, welche Schnelltests bieten, sollten zudem genutzt werden, um beispielsweise Risikogruppen ohne weitgehende Isolation zu schützen.
Vor allem aber braucht es für die kommenden Monate eine echte längerfristige Strategie anstelle von Ad-hoc-Entscheidungen. Es braucht Vernunft und Besonnenheit bei der Wahl der Massnahmen zur Bekämpfung der zweiten Welle. Milderen Massnahmen sollte die Chance gegeben werden ihre Wirkung zu zeigen, bevor strengere Massnahmen ergriffen werden. Auf pauschale Schliessungen von Grenzen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Kindergärten, Schulen und fast allen Geschäften sollte ganz verzichtet werden, da sie vermutlich wenig Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben, aber mit massiven negativen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen verbunden sind.
Jedoch am allermeisten braucht es Solidarität und gegenseitige Rücksichtnahme von uns allen. Das Entscheidende bei der Bekämpfung der Pandemie ist die konsequente Vermeidung von Ansteckungsmöglichkeiten. Dies kann durch Verhängung drastischer Massnahmen mit massiven negativen wirtschaftlichen, gesundheitlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen quasi erzwungen werden. Oder aber die Bevölkerung steht solidarisch zusammen und reduziert bei milderen Massnahmen freiwillig Kontakte. Die Bevölkerung muss begreifen, dass sie es durch Einhaltung der grundlegenden Schutzmassnahmen Hygiene, Abstand und Maske tragen sowie durch konsequente Reduzierung der Ansteckungsmöglichkeiten vor allem im Privaten selbst in der Hand hat, wie sich die Pandemie entwickelt und wie drastisch kantonale und staatliche Eindämmungsmassnahmen entsprechend ausfallen werden.
Denn Vernunft und Besonnenheit in der Wahl der Massnahmen sind zwecklos ohne die Disziplin, den solidarischen Verzicht und vor allem die gegenseitige Rücksichtnahme von uns allen.
Ce sont le titre et le ton quit font la musique! Mittlerweile haben 62 Kolleginnen und Kollegen den “Brandbrief” (wie der Blick schrieb) an den Bundesrat unterschrieben, der mit “no trade-off” betitelt ist. Die Nicht-Existenz eines “free lunch” ist konstitutiv für unser Fach – who cares! Der Tonfall des Briefs ist alarmistisch. Von desaströsen Konsequenzen für die Wirtschaft ist die Rede, wenn die Schweiz nicht subito in einen zweiten Lockdown ginge. Gleichzeitig werden fiskalische Unterstützungsmassnahmen gefordert, die es “Unternehmen und Haushalten erleichtern, die zusätzlichen Einschränkungen zu akzeptieren”. Wer, wenn nicht die Unternehmen und Haushalte machen die Volkswirtschaft aus? Ich kann nur sagen “tu felix Helvetia”, dass du dir solche Ökonomen leisten kannst.
Angesichts Ihres Textes ist nicht nachvollziehbar, warum Sie den Ökonominnen/Ökonomen-Brief mitunterzeichnet haben. Sie plädieren ja gerade nicht für ungehobelten Lockdown, sondern für gezielte Einzelmassnahmen und rigorose Erfolgskontrolle, was ich meinerseits unterzeichnen würde.
Niemand sieht übrigens einen Zielkonflikt zwischen Schutz der Gesundheit und Schutz der Wirtschaft. Ein Konfliktpotenziel (Trade-off) liegt aber in unverhältnismässigen Schutzmassnahmen hier oder dort. Man könnte ev. von von Massnahmenkonflikt statt von Zielkonflikt sprechen.
Niemand fordert im Brief einen “ungehobelten” Lockdown. Wie ein Lockdown aussehen soll, bleibt schlichtweg offen. Es ist durchaus möglich, dass die Unterzeichnenden dort auch unterschiedliche Vorstellungen haben. Deshalb ist eine Diskussion wichtig. Ich denke, dass kurzfristig etwas getan werden muss, weil wir sonst nicht aus dem Ad-hoc-Management mit Überforderung beim Testen und Contact-Tracing herauskommen, plädiere aber auch dabei für Mass und Besonnenheit.
Im übrigen sehe ich auch diesen “Massnahmekonflikt”, wie aus dem Beitrag klar erkennbar sein sollte. Für mich sollte das Kriterium jedoch nicht allein das mögliche Ausmass negativer wirtschaftlicher Folgen sein, sondern ob dieses in einem angemessenen Verhältnis zum erzielbaren Effekt hinsichtlich der Eindämmung der Pandemie steht. Dies ist jedoch nur evidenzbasiert abschätzbar. Deshalb und mit dem expliziten Ziel der Minimierung negativer wirtschaftlicher Folgen: vorhandenes Wissen nutzen, schnellstmöglich die Voraussetzungen für eine Wissenserweiterung durch Testen und Contact-Tracing schaffen, und dieses Wissen dann umgehend und konsequent umsetzen.