Der Patient liegt schwerkrank am Beatmungsgerät, sein Gesundheitszustand ist alarmierend wenn auch nicht hoffnungslos – er wird es überleben, aber für einige Jahre geschwächt. Es hat ihn so schlimm erwischt wie seit Jahrzehnten nicht mehr, es geht ihm offensichtlich nicht gut. Die Blutwerte – völlig normal, Fieber – nicht nennenswert, Blutdruck und Puls sogar ausgezeichnet. Ist also doch alles in Ordnung?
Ungefähr so präsentiert sich die Lage an den Finanzmärkten. Der US Lead Economic Indicator Index (LEI) des Conference Board, der zehn bewährte Frühindikatoren zusammenfasst, weist den mit Abstand tiefsten Stand seiner 60-jährigen Geschichte auf; die US-Arbeitslosenrate ist auf den höchsten Stand seit der Grossen Depression gestiegen, und die vom IMF prognostizierte Staatsverschuldung der entwickelten Länder wird auf Ende Jahr mit einem Durchschnitt von 120% des BIP geschätzt – ein Wert, der im Laufe der Jahre nur von Japan, Griechenland und Italien (und kurzfristig Portugal) übertroffen wurde.
Szenenwechsel: Der US- Aktienmarkt liegt gegenüber dem Jahresanfang – nach einem Tiefststand im März – weniger als 10% im Minus, dasselbe gilt für den schweizerischen Aktienmarkt (SMI), und der viel breitere SPI hat sogar nur 6% nachgegeben. Auffälliger ist die Fieberkurve bei den von Finanz- und Industriewerten dominierten japanischen und europäischen Märkten, welche 15% resp. 20% eingebrochen sind. Diese Verluste sind schmerzhaft, aber in Anbetracht der Vorjahresgewinne verkraftbar und im Mehrjahresvergleich nicht aussergewöhnlich. Für eine Krisensituation nicht überraschend ist das hohe Niveau der Verunsicherung, das sich im Volatilitätsindex des Optionsmarktes (in den USA: VIX) – auch als Angstindex bezeichnet – widerspiegelt (siehe Abbildung 1). Im Vergleich zur Finanzkrise 2008 ist der Wert allerdings bereits auf ein – durchaus noch moderat überhöhtes – Niveau gefallen. Aber ist dies in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Analysten hinsichtlich der Gewinnprognosen völlig uneins sind, ja sich in vielen Fällen nicht einmal eine Schätzung zutrauen, nicht erstaunlich?
Abbildung 1: Der Volatilitätsindex des US-Aktienmarktes (implizit aus Optionspreisen der CBOE).Oberes Bild: seit 1990, unteres Bild: seit Februar 2020
Auch ziemlich «normal» präsentiert sich die relative Bewertung der Aktienmärkte (siehe Abbildung 2), dargestellt am Verhältnis zwischen Kurs und Gewinnschätzungen für 2020 und 2021, die sog. Forward P/E-Ratio. Eine Aktienmarktkrise würde ein ganz anderes Bild zeigen, nämlich ein Missverhältnis zwischen Bewertungen und Gewinnprognosen: den eingebrochenen Kursen würden noch pessimistischere Gewinnerwartungen gegenüberstehen, was die Aktien als teuer und überbewertet erscheinen lässt. Erst im Nachgang einer Krise – mit optimistischeren oder präziseren Gewinnerwartungen – werden die Bewertungen jeweils attraktiver. Die erste Spalte zeigt die Indexstände gegenüber den Gewinnprognosen im laufenden Jahr, die zweite Spalte jene gegenüber 2021. Die sinkenden Werte sind also nicht etwa ein pessimistisches Zeichen, sondern vielmehr ein Indiz dafür, dass die Gewinnprognosen für 2021 deutlich besser ausfallen als für das laufende Jahr – und absolut betrachtet sind die Bewertungen, mit Ausnahme des technologielastigen NASDAQ-Index, sogar sehr attraktiv. Ist dieser Optimismus gerechtfertigt? Haben die Aktienmärkte die Korrektur also bereits hinter sich?
Abbildung 2: Relative Bewertung der Aktienmärkte: P/E-Ratios mit Gewinnschätzungen für 2020 und 2021 (Bloomberg Snapshot Ende April 2020)
Es gibt keinen Grund zur Entwarnung oder einen gelassenen Blick in die Zukunft. Die Finanzmärkte geben, das muss leider klar und deutlich festgehalten werden, ein äusserst unzuverlässiges Bild der Wirtschaft ab. Die Preise der Vermögensanlagen werden durch die monetären Behörden in einem nie gewesenen Umfang verzerrt, nicht nur sporadisch, sondern systematisch und über Jahre hinweg. Nicht nur die Null- und Negativzinsen haben die Funktion verlässlicher Preissignale für Spar- und Investitionsentscheiden verloren: die Risikoprämien auf den Vermögensanlagen sind davon genauso betroffen. Das ist nicht überraschend: Wie könnte das Fed die Bilanz innerhalb weniger Wochen durch Offenmarktoperationen um die Hälfte ausweiten, ohne Risikopapiere im grossen Stil zu kaufen? Dies ist in Abbildung 3 exemplarisch am Beispiel des US Junk Bond Marktes aufgezeigt, wo die Risikoprämien besonders augenfällig sind. Der Kurseinbruch – resp. symmetrisch dazu: die Renditeerhöhung – notleidender Unternehmensanleihen ist eine natürliche Entwicklung bei einem wirtschaftlichen Einbruch und liefert wichtige Bewertungssignale für nicht am Kapitalmarkt gehandelte Kreditrisiken. Die Käufe des Fed neutralisierten den Prämienanstieg innerhalb weniger Tage um rund zwei Drittel.
Abbildung 3 Das Fed und die Preise (Risikoprämien) von Junk Bonds
Die Bewertung von Risiken erfolgt aus Arbitragegründen zwischen den unterschiedlichen Segmenten der Finanzmärkte in ziemlich konsistenter Weise und überträgt sich auf die Gesamtheit vergleichbarer Vermögensanlagen: Aktien, Immobilien und Anleihen werden damit noch höher bewertet. Man sollte sich über die damit erwirtschafteten Gewinne – wie im letzten Jahr – nicht übermässig freuen. Sie sind vielleicht zur Hälfte das Ergebnis einer positiven realwirtschaftlichen Entwicklung. Der Rest ist Ergebnis eines undifferenzierten Runs der institutionellen Investoren auf risikobehaftete Vermögenswerte in Ermangelung rentabler Alternativen.
Risikoprämien bilden im Nullzinsumfeld die Renditequelle der letzten Hoffnung. Wenn auch sie – nach den Zinsen — erodieren, sind Aufbau und effiziente Allokation des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks gefährdet. Die Leistungen kapitalgedeckter Vorsorgesysteme können nicht einmal mehr unter Inkaufnahme von Risiken versprochen werden. Es wächst der Anreiz, positive Renditen über Ponzi-Spiele zu erwirtschaften: durch Vererbung eines als vermeintlichen Kapitalstock getarnten Schuldenbergs an die nächste Generation.
Aus diesem Grund besteht nach der gegenwärtigen Krise wenig Hoffnung, dass die Finanzmärkte den Weg zurückfinden, die ihnen zugedachten Funktion zu erfüllen, nämlich die Koordination von Konsum- und Investitionsentscheidungen und den Aufbau des für das Wachstum erforderlichen Risikokapitals.
Ich habe die folgenden Fragen:
1. Wenn ich mir den kleinen Film von Ray Dalio: How The Economic Machine Works ( https://www.youtube.com/watch?v=PHe0bXAIuk0)anschaue, dann sind Zyklen und eine extreme Kreditaufnahme etwas, was immer schon in der Geschichte stattgefunden hat. Das was wir heute erleben ist also nichts Ungewöhnliches. Sehe ich das falsch?
2. Weshalb nehmen eigentlich die meisten Finanzwissenschaftler eine positive risk free rate als gegeben an? Begründet wird dies i.A. mit Konsumverzicht. Wenn aber ein Bill Gates investiert, führt er keinen Konsumverzicht durch und wenn ein Normalbürger für seine Rente spart, geht es auch nicht um Konsumverzicht, sondern darum einen arbeitsfreien Ruhestand zu geniessen. Unter diesen Gesichtspunkten müsste eine negative risk-free rate eigentlich der Normalzustand sein, weil die Möglichkeit Kapital risikofrei zu speichern eigentlich Geld kosten sollte. Verdienen sollte man Geld eigentlich nur, wenn man es mit Risiko investiert, sehe ich das falsch?
3. Wenn Geld „gedruckt“ wird und das Geld nicht bei den Leuten landet, die konsumieren, sondern bei den Leuten, die schon Geld haben und weiteres Geld investieren, sollte dies zu einer Inflation der Assetpreise führen. Kann man dann davon sprechen, dass sich die Assetpreise von der Wirtschaft abgekoppelt haben?
4. Ist nicht das Kernproblem beim „Gelddrucken“ , dass das Gedruckte Geld dort landen muss, wo es für den Konsum oder für die Erhöhung der Produktivität eingesetzt wird und nicht zum Kauf von Assets – Nur dann kann doch ein Schuldenabbau in Zukunft zu gelingen – oder?
5. Hat die Finanzkrise hat nicht gezeigt, wie man es nicht machen sollte? Dort sind mit staatlichem Geld die Bankaktionäre gerettet worden. Die immer wieder getroffene Aussage, der Staat hätte mit den Stützungsaktionen keine Verluste gemacht, ist doch fehlleitend – oder? Hat nicht der Staat das Geld viel zu preiswert weggegeben? Ist das nicht offensichtlich, wenn man es mit dem Investment von Warren Buffet in Goldman Sachs vergleicht? Ist die Finanzkrise nicht ein Beispiel dafür, wie das gedruckte Geld in Assets investiert wurde und nicht in Produktivitätssteigerung oder Konsum?
6. Zentrale Frage: Wie sind die Stützungen diesmal einzuwerten?