Am 24. April 2020 hat das Bundesamt für Statistik (BFS) detaillierte Statistiken zur Anzahl Todesfälle pro Woche nach Altersgruppe und Kanton für den Zeitraum 29.12.2014 bis 12.04.2020 veröffentlicht (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home.gnpdetail.2020-0650.html). Damit kann erstmals eine mögliche Übersterblichkeit durch COVID-19 untersucht werden. Nur kurze Zeit später haben diverse Medien auf Basis dieser Zahlen Berichte veröffentlicht, die für die Schweiz eine deutliche Übersterblichkeit in den Wochen seit Beginn der Krise ausweisen. Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt jedoch ein differenzierteres Bild.
Abbildung 1 zeigt für die Altersgruppe ab 65 Jahren, welche mehr als 90% der gemeldeten COVID-19-Todesfälle ausmacht, die schweizweit insgesamt registrierten Todesfälle pro Kalenderwoche und Jahr. Der erste COVID-19-Todesfall wurde am 5. März in Kalenderwoche 10 gemeldet. Wie von den Medien berichtet, liegen die diesjährigen Todesfälle für die Kalenderwochen 12 bis 15 deutlich über den Werten der letzten 5 Jahre mit einem vorläufigen Höhepunkt in Kalenderwoche 14. Gleichzeitig sind jedoch für die Jahre 2017 und 2015 ähnlich hohe Ausreisser nach oben zu beobachten, welche in Zusammenhang mit überdurchschnittlich starken Grippewellen stehen. Da diese in anderen Kalenderwochen auftreten, fallen sie bei einer Fokussierung auf die COVID-19-Krisenwochen jedoch nicht auf. Diese Beobachtung lässt aber die Todeszahlen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Heisst dies nun, dass COVID-19 doch nicht tödlicher ist als eine stärkere Grippewelle?
Abbildung 1: Todesfälle in der Schweiz pro Kalenderwoche und Jahr

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten des BFS.
Um einer Antwort näher zu kommen, muss zunächst ein Weg gefunden werden, die Zahlen über die Jahre vergleichbarer zu machen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Todesfälle pro Jahr über die ersten 15 Kalenderwochen aufzusummieren. Dann spielt es keine Rolle, wann Ausreisser nach oben auftreten, sondern nur ob diese auftreten. Abbildung 2 zeigt deshalb die insgesamt in den Kalenderwochen 1 bis 15 registrierten Todesfälle. Um ein differenziertes Bild zu erhalten, wird dabei sowohl nach Altersgruppen als auch nach Region innerhalb der Schweiz unterschieden. Insbesondere werden die besonders stark von COVID-19 betroffenen Kantone Genf, Tessin und Waadt separat ausgewiesen. Die Abbildung stellt die Zahlen für 2020 dabei im Vergleich zum niedrigsten und höchsten Wert der letzten 5 Jahre dar. Diese Betrachtungsweise gibt Aufschluss darüber, ob die Zahlen für 2020 ausserhalb der Schwankungen der letzten 5 Jahre liegen.
Abbildung 2: Gesamte Todesfälle in den Kalenderwochen 1 bis 15

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten des BFS.
Abbildung 2 zeigt lediglich in den besonders betroffenen Kantonen eine Todeszahl, die über dem Höchstwert der letzten 5 Jahre liegt. Bei den 65-bis-79-Jährigen ist die Zahl um 5.2 Prozent höher, bei den Personen ab 80 Jahren um 5.9 Prozent. Diese Werte liegen jedoch in einem Bereich, wo noch nicht von einer statistisch gesicherten Abweichung vom letzten Höchstwert gesprochen werden kann.
Im Rest der Schweiz und gesamtschweizerisch sind die Zahlen vom grippebedingten Höchstwert der letzten 5 Jahre noch weit entfernt. Der Abstand zum Höchstwert ist in der am stärksten betroffenen Altersgruppe ab 80 Jahren mit 1’192 Fällen gesamtschweizerisch zudem so gross, dass dieser bei der momentanen Entwicklung der nachgewiesenen Todesfälle in Zusammenhang mit COVID-19 auch in den kommenden Wochen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überschritten wird. Diese Zahlen sprechen somit eher dagegen, dass COVID-19 nach jetzigem Kenntnisstand tödlicher ist als eine stärkere Grippewelle. Ein Beweis ist dies jedoch nicht.
Zum einen ist die Ermittlung der Übersterblichkeit deutlich komplexer als einfache statistische Auswertungen. Zum anderen wissen wir nicht, wie sich die Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 ohne die drastischen Massnahmen des Bundes entwickelt hätten. Die obigen Auswertungen zeigen jedoch, dass je nach Perspektive auf dieselben Zahlen unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Dies verdeutlicht das Dilemma, in dem sich die Politik und jeder Einzelne von uns befindet. Je nach Betrachtungsweise der verfügbaren Statistiken zeigt sich ein pessimistischeres oder optimistischeres Bild der Pandemie, auch aus Sicht unterschiedlichster Experten. Dies führt zu einer enormen Verunsicherung in der Bevölkerung und zu einem erheblichen Konfliktpotenzial.
Die eigentliche Problematik besteht darin, dass wir die Zahlen, welche für eine objektive Beurteilung von COVID-19 notwendig wären, noch immer nicht kennen. Um eine fundierte Entscheidungsgrundlage für die Politik zu schaffen, müssten wir für jede Altersgruppe wissen, welcher Anstieg der Infizierten mit welcher zeitlichen Verzögerung zu wie vielen Todesfällen und zu welcher Belastung des Gesundheitssystems führt. Nur so kann eine Steuerung der Massnahmen in Abhängigkeit von der Entwicklung der Fallzahlen erfolgen und nur so kann das Ziel erreicht werden, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern und die Todesfälle moderat zu halten.
Dies scheitert momentan jedoch zum einen an der unbekannten Dunkelziffer der Infizierten und zum anderen an Kenntnissen darüber, welche Todesfälle tatsächlich auf COVID-19 zurückzuführen sind. Darüber hinaus bräuchte es Kenntnisse darüber, wie unterschiedlich strenge Massnahmen Neuansteckungen und Todesfälle in verschiedenen Altersgruppen beeinflussen. Ein strenger oder wiederholter Lockdown wie in den vergangenen Wochen ist auf Dauer weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich verkraftbar. Die bestehenden Wissenslücken müssen deshalb schnellstmöglich geschlossen werden. Die wichtigsten Schritte sind dabei die Aufklärung der Dunkelziffer durch regelmässige repräsentative Testungen sowie die möglichst genaue und zeitnahe Erfassung der ursächlich auf COVID-19 zurückzuführenden Todesfälle. Beides ist notwendig für eine evidenzbasierte Steuerung der Massnahmen, um einen auch längerfristig gangbaren Weg zwischen Schutz der Bevölkerung, Einschränkung der persönlichen Freiheiten und negativen wirtschaftlichen Folgen zu finden.
– Wieso haben Sie die Todesfälle U65 nicht berücksichtigt? Sind nicht genau diese Todesfälle jene, die ohne Covid-19 nicht aufgetreten wären?
– Spielt die Temperatur nicht auch eine Rolle bei den Todesfällen (vgl. Gasparrini, Antonio, Lancet 2015)? Dieser Winter war ausgesprochen mild. Wir starteten also von einem sehr tiefen Wert und hätten ohne Covid ev. eine Untersterblichkeit gehabt.
Lieber Herr Marty
Abbildung 1 fokussiert auf Personen ab 65, weil diese mehr als 90% der gemeldeten Toten im Zusammenhang mit COVID-19 ausmachen. Abbildung 2 enthält auch die Personen unter 65 Jahren.
Wie ich im Text explizit erwähne, ist die Ermittlung der Übersterblichkeit komplexer als die von mir ausgeführte einfache statistische Auswertung, z.B. genau weil die Temperatur ebenso wie andere Faktoren auch berücksichtigt werden müssten.
Mir geht es im Artikel darum aufzuzeigen, warum es auf Basis der verfügbaren Zahlen schwierig ist klare Aussagen zu machen und welche Informationen es eigentlich bräuchte.
Liebe Frau Wunsch
Ich habe ihren Punkt verstanden und kritisieren den Ansatz gar nicht. Bin nur neugierig. Wären die Resultate identisch, wenn man die U60 miteinbeziehen würde?
Lieber Herr Marty
Für alle Altersgruppen zusammen liegen die Maxima bei 1805 Toten 2015, 1746 Toten 2017 und 1749 Toten 2020. Es ergibt sich also dasselbe Bild.
ein Kommentar sollte immer den Namen des Verfassers zeigen
Bei der Diskussion um die Gefährlichkeit von Covid-19 könnte ein Blick in andere Länder gewinnbringend sein. Beispielsweise zeigt sich in New York eine klare Übersterblichkeit (siehe beispielsweise Auswertungen der NY-Times). Der frühe Lockdown der Schweiz dürfte ein wesentlicher Grund sein, weshalb wir hierzulande glücklicherweise nicht auch solche explodierenden Todeszahlen sehen. Denn sobald das Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenze stösst, steigt die Rate der Todesfälle stark an (siehe beispielsweise Nature Medicine, 2020, combating covid-19: health equity matters) und liegt dann deutlich über der einer (starken) Influenza. Hingegen kam es in den letzten Jahrzehnten in westlichen Ländern aufgrund von Influenzawellen zu keinen Kapazitätsengpässen in den Gesundheitssystemen.
Daraus ergibt sich eigentlich eine recht klare Schlussfolgerung: Das neue Covid-19 ist nicht mit einer herkömmlichen Grippe vergleichbar, sondern um einiges gefährlicher, selbst wenn sich dies in den Schweizer Zahlen aufgrund des Lockdowns nicht zeigt.
Für die Zukunft wird es wichtig sein zu verstehen, warum es trotz ähnlicher oder sogar drastischerer Massnahmen als in der Schweiz in einigen Ländern zu einer Überlastung des Gesundheitssystems gekommen ist, in anderen trotz weniger drastischerer Massnahmen jedoch nicht. Nur wenn wir die Determinanten der Anzahl Todesfälle und der Belastung des Gesundheitssystems in ihrer Gänze verstehen, können wir gezieltere Massnahmen ergreifen. Momentan sehen wir nur Indizien und Korrelationen, die Hinweise auf Zusammenhänge geben.
Was beim Lesen so einfach aussieht und bestens nachvollziehbar ist, verlangt von der Verfasserin ein hohes Mass an Überblick und ein noch höheres an Unabhängigkeit. Die Autorin hat auch den Mut, die noch offenen Fragen offen auf den Tisch legen und damit den zukünftigen Fokus auf die entscheidenden Fakten zu legen. So etwas habe ich selbst in der NZZ schwer vermisst. Selbsternannte Experten präsentierten sich in den Medien allwissend und alternativlos. Beim Vergleich mit den Grippewellen von 2015 und 2017 ist noch zu beachten, dass ein relevanter Anteil der Bevölkerung geimpft war.