Ökonomen kennen das Bank-Run Phänomen, den Ansturm der Anleger auf eine Bank, weil Zahlungsschwierigkeiten erwartet werden. Weil aus Sorge vor dem Ausfall der Bank alle Anleger ihr Geld zum selben Zeitpunkt abziehen wollen, gerät die Bank in der Tat in Zahlungsschwierigkeiten, selbst wenn sie auf längere Sicht erfolgreich wäre. Fazit: Alle wollen gleichzeitig nur das Eine, und schon ist das Problem da. Schauen wir durch die Brille der Spieltheorie.
Zu Coronazeiten ist alles etwas anders und doch wieder genauso. Toilettenpapier ist diesmal das Anlageobjekt! Sorgenvolle Zeitgenossen befürchten Engpässe bei zentralen Produkten aufgrund eines Unterbruchs internationaler Lieferketten in Folge der Coronapandemie. Und zugegeben, ohne Toilettenpapier wären wir alle (..?..). Je sorgenvoller der Mensch, desto stärker sein Bedrohungsgefühl. Also schnell einen Vorrat anschaffen und den Bedarf der nächsten zwei oder drei Monate im Keller einlagern. Und dann wohlwollend sorgenvoll Nachbarn, Freunden und Arbeitskollegen das am Horizont drohend aufziehende Hygieneinferno eines Toilettenpapiermangels schildern. «Soll ich also doch selber auch noch schnell etwas kaufen, wenn die anderen doch alle? Oder nicht? Sicher ist sicher!» Wenn es doch nur noch welches gäbe….
Der Verkauf von Toilettenpapier ist im März in Deutschland um 700% gestiegen.[1] Obwohl die Produktion bereits im März auf Rekordniveau angekurbelt wurde, war Toilettenpapier im Einzelhandel oft ausverkauft. Vielfach wurde die maximale Menge pro Kunde rationiert.[2] Berichte von Handgemengen um das letzte Paket, Diebstählen bis hin zu notwendigen Polizeieinsätzen machten die Runde. (Am 26.3.2020 setzte sich in einem Supermarkt in Bergneustadt, Deutschland, eine Kundin aus Protest auf das Kassenband, weil sie nur ein statt drei Grosspakete Toilettenpapier kaufen durfte. Die Polizei musste schliesslich die sich mit Händen und Füssen wehrende Kundin in Handschellen abführen.)
Was haben Toilettenpapier, Seife, Teigwaren, Mehl und Hefe[3] gemeinsam? Sie alle waren in den Kalenderwochen 10, 11 und 12 regelmässig ausverkauft; alle aus demselben Grund. Kaum waren die Regale nachgefüllt, wurden sie geleert. Dafür wuchsen die Lagerbestände in den privaten Haushalten exorbitant. In der Coronazeit hat immerhin so mancher die Zeit zuhause genutzt und angefangen, Brot zu backen und so Mehl und Hefe kulinarisch zu verwerten. Unser Toilettenpapierbedarf ist allerdings ganz und gar nicht gestiegen. So haben viele heute noch einen Vorrat für Monate im Keller. Im Mai ist der Verkauf von Toilettenpapier denn auch erstmals um mehr als 30% gegenüber dem Durchschnitt der letzten 6 Monate eingebrochen. Einige Hersteller meldeten Kurzarbeit an.
Was haben also Bank-Runs und Toilettenpapier-Runs gemeinsam? Spieltheorie hilft! Ihr zentrales Konzept sind die Reaktionsfunktionen. Sie zeigen jeweils das beste Verhalten einer beteiligten Person oder Institution, gegeben das erwartete Verhalten der anderen. Sind die Erwartungen wechselseitig richtig, spiegelt dies eine stabile, sich selbst bestätigende Situation wider, eben ein Gleichgewicht. Genau dies ist auch beim Run auf Banken oder Toilettenpapier der Fall. Weil jeder glaubt, dass der andere heute noch Vorräte kauft und selber glaubt, dass der andere glaubt usw., ist es in der Tat das Beste, möglichst schnell Vorräte anzulegen. Denn die Regale sind im Nu leer. Genau das ist passiert. Gegen dieses Verhalten anredende Politiker oder Verbandspersonen – hoffnungslos, denn jeder Einzelne handelt individuell perfekt rational.
Warum aber passiert so etwas in Coronazeiten nicht bei allen Produkten, warum beispielsweise nicht bei Schokolade? Weil ein solches Spiel mehrere Gleichgewichte hat. Wenn wir aus Sorge vor den zusätzlichen Corona-Kilos alle nur genau so viel Schokolade kaufen und essen wie bisher, und jeder weiss, dass jeder weiss, dass wir alle dies tun, weil wir auf die Figur achten wollen, dann ist wie zuvor immer genug für alle da. Die Lieferketten haben ja fast alle problemlos funktioniert.
Zurück zum Bank-Run und dem Toilettenpapier. Fast jeder war rational und hat das individuell Beste getan: Rennen und kaufen. Das Ergebnis insgesamt ist dennoch so herrlich unterhaltsam ineffizient. Weil alle das Gleiche gleichzeitig wollten, war einfach nichts mehr da. Jetzt – zahlen wir doch in Zukunft statt mit Bitcoins mit Vierlagigem, wir haben ja noch genug.
[1] Handelsjournal; https://handelsjournal.de/news/maerz/lebensmittelhandel-700-prozent-mehr-klopapier-verkauft.html
[2] Neben der klassischen Beschränkung der Form «pro Kunde nur 1 Paket» befanden sich auch kreative Anreizsysteme im Einsatz. Hamsterkäufer mussten bei Rewe Rengsdorf, Westerwaldort, einen Preisaufschlag von 5 Euro für die zweite Packung bezahlen, ab der dritten Packung 10 Euro. Die Welt, 22.3.2020, Krieg um Klopapier.
[3] Weitere Beispiele für Produkte mit Hamsterkäufen: Suppen und Eintöpfe (Konserven) + 112%, Teigwaren + 73%, Fisch- und Obstkonserven + 70% (Zahlen: Umsatz Woche vom 24. Februar im Vergleich zur Vorwoche) Sascha Lübbe, 14. März 2020, ZeitOnline.
Sehr anschaulich wird in diesem Blogpost der Zusammenhang und die gemeinsame Grundlage zwischen Bank-Run und Klopapier-Run erkärt. Vielen Dank Frau Prof. Böckem! Habe mir erlaubt, Ihren Artikel auf meinem Blog zu verlinken und ein Trackback zu setzen. mfg Bettina Metzler
Dass wegen anfänglich zu Unrecht befürchteter Angebotsverknappung die Nachfrage nach dem betreffenden Gut (z.B. Lebensmittel, Immobilien, Wertpapiere) steigt, die Angebotsverknappung deswegen dann tatsächlich eintritt was wiederum zusätzliche Nachfrage auslöst etc. etc. (self fulfilling prophecy) ist ein auch Laien ohne weiteres einleuchtender immer wieder zu beobachtender Prozess. Um ihn zu verstehen braucht es etwas Intelligenz und Abstraktionsvermögen. Auch nach der Lektüre des Beitrags von Frau Böckem stellt sich mir die Frage: welche zusätzlichen Erkenntnisse kann die Spieltheorie dazu liefern?