Staatliches Handeln sollte konsistent sein. Diesem Anspruch wird der Staat in der Corona-Krise nicht gerecht. Mit den Verboten und Geboten des Lockdowns tut er alles, um Todesfälle zu vermeiden. Anders beim Impfen: Hier ist er gegen Zwang, handelt zögerlich und nimmt Tote in Kauf.
Betten und qualifiziertes Pflegepersonal auf der Intensivstation sind eine knappe Ressource – das ist uns in der SARS-CoV-2-Pandemie deutlich vor Augen geführt worden. Wichtig ist es, diese Ressource nicht zu übernutzen. Idealerweise ist immer eine Reserve für den Fall vorhanden, dass aufgrund eines Hochschiessens der Infektionen die Nachfrage nach Intensivbehandlungen überläuft. Eine solche Reserve stellt ein Optionsgut dar, für dessen Konsum keine Rivalität besteht. Ein reines öffentliches Gut liegt allerdings nicht vor. Ein Ausschluss wäre prinzipiell möglich, politisch aber nicht durchsetzbar. Daraus ergibt sich eine Rechtfertigung für den Staat, ins Infektionsgeschehen einzugreifen und die Bewegungsfreiheit der Bürger einzuschränken. Eine zweite Begründung für einen staatlichen Eingriff sind die externen Effekte der Corona-Massnahmen. Wer Hygiene- und Abstandsregeln einhält, schützt sich und andere vor Ansteckung mit dem Virus. Die Schweizer Lockdowns von März 2020 und Anfang 2021 zielten auf die Reduktion von Covid-19-Erkrankungen und deren möglichen Folgen. Bisher sind rund 9500 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 zu verzeichnen. Durch die massiven Einschränkungen durch Bund und Kantone sind Leben gerettet worden, wenn auch Unklarheit darüber besteht, wie hoch deren Zahl tatsächlich ist. Gleichzeitig sind erhebliche volkswirtschaftliche Kosten entstanden, die im letzten Jahr mindestens 33 Mrd. Franken betragen haben (3,5% Einbruch des BIP plus 1% nicht realisiertes Wachstum).
Eine Impfung mit einem der erstaunlich schnell entwickelten Vakzine schützt mit hoher Wirksamkeit ebenfalls vor Ansteckung mit SARS-CoV-2. Gleichzeitig gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass Geimpfte nicht ansteckend sind. Somit produziert die Impfung gleich wie Masken und Hygienemassnahmen einen externen Effekt. Geimpfte tragen damit ebenfalls dazu bei, dass es künftig nicht zu einer Überlastung der Intensivstationen kommt. Die bei den über 75-Jährigen erfolgten Impfungen haben die Spitaleinweisungen bei den Hochaltrigen bereits merklich reduziert. Bisher sind in der Schweiz knapp 450’000 Menschen vollständig geimpft worden. Um das Virus aushungern zu können, braucht es bei SARS-CoV-2 eine Durchimpfungsrate von 60 bis 70% der Bevölkerung. Nach der 7. Corona-Umfrage der SRG vom März wären 44% der Schweizer Bevölkerung bereit, sich sofort impfen zu lassen, 28% sind noch unschlüssig und 20% lehnen eine Impfung ab. Gegenüber der 5. Umfrage Ende Oktober, als das Infektionsgeschehen ruhig war, ist die Impfwilligkeit gestiegen. Damals waren lediglich 16% der Befragten ohne Einschränkung zum Impfen bereit. Diese Zahl deckt sich mit den niedrigen Impfraten gegen die saisonale Grippe. Bei Personen, die im Gesundheitsbereich tätig sind, beträgt die Durchimpfungsrate gegen Grippe nach einer durch das Bundesamt für Gesundheit beauftragten Umfrage 23%. Bei Personen mit regelmässigem Kontakt mit Risikopatienten liegt sie nur bei 8%. Dennoch setzen Bund und Kantone beim Impfen nur auf Freiwilligkeit; Überzeugungsarbeit im Verbund mit Wissenschaft und Medien soll es richten. Wenn aber die Infektionen wieder zurückgehen, Intensivbetten sich leeren und die Todesfälle abnehmen, wird Freiwilligkeit wohl nicht ausreichen, um den notwendigen Herdenschutz zu bekommen.
Das Epidemiengesetz würden es Bund und Kantonen erlauben, Impfungen von gefährdeten Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch zu erklären. Allein, davon ist nichts zu vernehmen. Im Gegenteil, Vertreter von Bund und Kantone haben wiederholt ein Impfobligatorium ausgeschlossen. Wieso eigentlich? Ein Impfzwang würde jedenfalls die in Art. 81 des Gesetzes verlangten Zweckmässigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Massnahmen des Epidemienschutzes erfüllen. Ganz im Gegensatz zu den erlassenen Verboten und Verpflichtungen der Bevölkerung im Zuge der beiden Lockdowns. Deren Zweckmässigkeit ist in einzelnen Fällen (keine Aussenrestaurants) nicht gegeben, die Wirksamkeit von Einzelmassnahmen wie Laden- und Restaurantschliessungen fraglich, und bezüglich Wirtschaftlichkeit der Massnahmen liegt überhaupt keine Evidenz vor.
Mit einer zügigeren Beschaffung der Impfstoffe durch den Bund und einem schnelleren Aufbau der Impflogistik in den Kantonen hätten Todesfälle vermieden werden können. Bei uns sind bis jetzt erst 5.3% der Bevölkerung zweifach geimpft worden, in Israel mit einer ähnlich grossen Bevölkerung dagegen bereits 50%. Wir leisten uns Diskussionen über angebliche Privilegien von Geimpften, die ihre verfassungsmässigen Freiheitsrechte für kulturelle Veranstaltungen exklusiv für sich einfordern. Wir haben eine Nationale Ethikkommission, die Mitgefühl mit dem belasteten Gesundheitspersonal ausdrückt und sich deshalb gegen dessen Impfverpflichtung ausspricht, ohne auch nur ein Wort zu den Kosten eines Zwangsverzichts zu verlieren. Dies alles führt dazu, dass weniger geimpft wird und Tote in Kauf genommen werden. Man kann es nicht anders sagen: dem Staat sind jene Menschen wichtiger, deren Tod er durch den Lockdown vermeiden kann, als jene Menschen, die er durch sein zögerliches Vorgehen beim Impfen verliert.
Danke für Ihren nüchternen, am Schluss etwas zu schwarz-weiss geschriebenen Beitrag, der m. E. aber zu mehr Dialog ermutigen könnte, was ich im Moment als sehr dringend erachte.
Die Argumentation scheint schlüssig zu sein, aber mir graut davor, was man so alles aus gesellschaftlicher Vernunft noch zum Zwang erheben könnte.
Die eigene Freiheit hört dort auf, wo die der anderen eingeschränkt wird. Freiheit ist kein absolutes, sondern ein relatives Gut. Was wir momentan an Freiheitsdiskussion erleben, ist eine Perversion. Homo sapiens ist ein soziales Wesen, auch wenn Auswüchse der Aufklärung das Wohl des Individuums über das der Gruppe stellen. Dass das nie gut kommt, wussten übereinstimmend bereits Plato und Konfuzius. Danke für diesen bestechenden Vergleich der zwei Handlungsfelder des Staates!
Vielen Dank für diese ebenso zutreffende wie frustrierende Diagnose. Konsequentes und konsistentes Handeln ist in dieser Krise leider kaum erkennbar.
Ein Impfzwang kann trotz all Ihren Argumenten KEIN Thema sein. Ein Corona-Virus kann und darf nicht Hand bieten zu universalen Rechtsverletzungen.
Danke für den Kommentar. Wie geschrieben lässt das Gesetz für bestimmte Personengruppen einen Impfzwang zu. Und dass der Staat das kann, zeigt Deutschland, wo für Kinder die Impfung gegen Masern Pflicht ist. Ohne Güterabwägung geht es nicht. Wer sich nicht impft, gefährdet andere Leben. Insofern kann es geboten sein, dass der Staat eine Impfung verlangt.