Steuergünstige Schweiz – wie gross ist die Gewinnverlagerung wirklich?

Aus Sicht vieler Länder stellen die tiefen Unternehmenssteuern der Schweiz ein Problem dar. Die Schweiz wird zusammen mit Belgien, Irland, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Singapur, Puerto Rico und Hongkong als Steueroase bezeichnet. Auch US Präsident Joe Biden prangert die Schweiz in seiner Bilanz nach den ersten 100 Tagen als solche an. Dank der tiefen Unternehmenssteuern lassen sich tatsächlich viele multinationale Konzerne in der Schweiz nieder und versteuern ihre globalen Gewinne hier. Es wird vermutet, dass ein Teil dieser günstig versteuerten Gewinne nicht durch echte Wertschöpfung vor Ort entstand, sondern durch Gewinnverlagerungen mittels manipulierter konzerninterner Transferpreise, Kreditzinsen oder Lizenzgebühren für geistiges Eigentum und Markenrechte.

Solche Gewinnverlagerungen in steuergünstige Länder erodieren die Steuerbasis sowohl in den grossen Industrieländern wie auch in den Entwicklungsländern. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) starteten deshalb 2013 eine gemeinsame Initiative gegen Gewinnverkürzungen und Gewinnverlagerung BEPS (Base Erosion and Profit Shifting Project  (link), um die aus ihrer Sicht schädlichen Praktiken mittels 15 Massnahmenpaketen einzudämmen. Dieser internationale Druck führte zur Einführung des steuerlichen Informationsaustauschs AIA (link), dem Country-by-Country-Reporting von multinationalen Konzernen CbCR (link) und der Aufhebung der kantonalen Steuerprivilegien im Zuge der letzten Unternehmenssteuerreform (STAF link). Durch die teils deutliche Senkung der ordentlichen Gewinnsteuersätze in vielen Kantonen und die Einführung einer privilegierten Patentbox für Gewinne aus geistigem Eigentum bietet die Schweiz aber nach wie vor attraktive Steuersätze.

Nach den in Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) festgelegten Regeln dürfen Gewinnverlagerungen gar nicht vorkommen. Konzerninterne Transferpreise, Kreditzinsen und Lizenzgebühren müssen gemäss dem sogenannten Arm’s Length-Prinzip zu Marktpreisen in den Buchhaltungen der Konzerne und ihrer Tochtergesellschaften verrechnet werden. Damit müssten die buchhalterisch ausgewiesenen Gewinne der tatsächlichen Wertschöpfung im jeweiligen Land entsprechen. Empirische Studien zeigen jedoch, dass globale Gewinne nach wie vor auffallend häufig in Tiefsteuerländern verbucht werden (link). Es kann deshalb nicht überraschen, dass die OECD weiterhin versucht, den Abfluss von Gewinnsteuereinnahmen zu verkleinern. Die vorgeschlagene Aufteilung der globalen Gewinne von Digitalkonzernen nach Umsatz (BEPS Pillar 1, link) oder die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes (BEPS Pillar 2, link) sind Ausdruck solcher Bemühungen. Nachdem sich US Finanzministerin Janet Yellen kürzlich ebenfalls für einen globalen Steuersatz ausgesprochen hat, (link) könnte dieser schneller als bisher erwartet zur Realität werden.

Doch wie viele globale Gewinne werden tatsächlich in steuergünstige Länder wie die Schweiz verlagert? Ein Team von Ökonomen um Gabriel Zucman von der Universität Berkeley hat versucht, eine Abschätzung mittels verfügbarer öffentlicher Daten vorzunehmen (link, Tabelle 2). Die Forscher kommen zum Schluss, dass im Jahr 2015 Gewinne im Umfang von 616 Milliarden US Dollar in steuergünstige Länder verlagert wurden. Davon entfallen 106 Milliarden auf Irland, 97 Milliarden auf Karibische Inseln, 70 Milliarden auf Singapur, 58 Milliarden auf die Schweiz, 57 Milliarden auf die Niederlande und 47 Milliarden auf Luxemburg. Die Schätzung beruht auf der Annahme, dass die Vergütung von Kapital (Gewinne und Zinsen) und Arbeit (Löhne) in allen Ländern im gleichen Verhältnis steht. Die beobachteten riesigen Unterschiede in Ländern wie Puerto Rico oder Irland deuten tatsächlich auf systematische Gewinnverlagerungen hin. Abweichungen könnten aber auch durch reale Unterschiede erklärt werden. So dürfte die forschungsintensive Tätigkeit vieler multinationaler Konzerne in der Schweiz die grossen hier ausgewiesenen Gewinne zumindest zum Teil rechtfertigen.

Daniel Binswanger schlägt in der Republik eine alternative Abschätzung vor (link). Das Bruttoinlandprodukt (BIP) wuchs von 473 Milliarden CHF im Jahr 2000 auf 694 Milliarden Franken im Jahr 2017 (link), also um einen Faktor von 1.47. Die in der Schweiz versteuerten Gewinne (nach Beteiligungsabzügen) wuchsen in derselben Periode von 71 Milliarden auf 144 Milliarden, also um einen Faktor von 2.03 (link). Wäre in dieser Periode der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen konstant geblieben, hätten die Gewinne nur auf 1.47 · 71 = 104 Milliarden steigen dürfen. Sie stiegen also um 40 Milliarden mehr an, als durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung zu erwarten gewesen wäre. Diese 40 Milliarden erscheinen mir deshalb als eine plausible Obergrenze für die zwischen 2000 und 2017 neu in die Schweiz verlagerten ausländischen Gewinne. Aber auch hier kann die überproportionale Gewinnzunahme noch andere Gründe haben. Durch den technologischen Wandel wurde Innovation immer wichtiger für viele Schweizer Unternehmen. Sie bewegen sich immer häufiger in Märkten mit Monopolmacht durch Patente und technischen Vorsprung. In solchen Märkten sind die Margen höher und die Gewinne grösser.

Eine dritte Möglichkeit, das Ausmass von Gewinnverlagerungen abzuschätzen, bietet das Steuerregime für Statusgesellschaften, das bis 2019 in der Schweiz gültig war. Global tätige Unternehmen, die als Statusgesellschaft (Holdinggesellschaft, Domizilgesellschaft, Gemischte Gesellschaft) organisiert waren konnten ihre im Ausland erwirtschafteten Gewinne damals  zu einem reduzierten kantonalen Steuersatz versteuern, der international konkurrenzfähig und vergleichbar mit der effektiven Besteuerung in Irland von 12.5% war. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass alle vor 2020 in die Schweiz verlagerten Gewinne in diese Kategorie fallen. Wir verfügen damit in der Schweiz bis 2019 quasi über eine amtliche Statistik zur Abschätzung von im Ausland erwirtschafteter Gewinne. Leider werden diese Gewinne weder vom Bund noch von den Kantonen publiziert. Sie können jedoch aus öffentlich zugänglichen Daten berechnet werden: 2017 wurden gemäss den Daten der direkten Bundessteuer nach Beteiligungsabzügen in Aktiengesellschaften, GmbHs, Genossenschaften und Vereinen 147 Milliarden Franken steuerbare Reingewinne deklariert (link, Tabelle III, IV und V). Tatsächlich versteuert wurden jedoch nur Gewinne im Umfang von 145 Milliarden, wie aus dem berichteten Ertrag der direkten Bundessteuer von 12.3 Milliarden und dem Bundessteuersatz von 8.5% einfach zurückgerechnet werden kann. Dabei nicht eingerechnet sind Gewinne, die von Steuererleichterungen zugunsten wirtschaftlicher Erneuerungsgebiete («Lex Bonny») profitierten. Solche von der direkten Bundessteuer befreite Gewinne machen im Jahr 2017 noch 5.4 Milliarden aus (link). Die Summe der in der Schweiz 2017 steuerbaren Gewinne betrug damit 151 Milliarden. Diese Summe umfasst auch die Gewinne von Statusgesellschaften. Gemäss den Daten des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) entfallen für das gleiche Jahr Reingewinne nach Beteiligungsabzügen und inklusive Lex-Bonny Gewinnen von 67 Milliarden auf ordentlich besteuerte Unternehmen (link, Ressourcenausgleich 2021, Blatt JP). Die Summe der Gewinne aller Statusgesellschaften entspricht der Differenz zwischen dem Total von 151 Milliarden Franken und den ordentlichen Gewinnen von 67 Milliarden: 84 Milliarden Franken für das Jahr 2017. Darin enthalten ist ein ganz kleiner Anteil an Gewinnen, die nicht privilegiert besteuert wurden.

Diese 84 Milliarden stellen aus meiner Sicht die Obergrenze der im Jahr 2017 in die Schweiz verlagerten Gewinne dar. Müssen alle diese Gewinne als ungerechtfertigt in die Schweiz verlagerte Gewinne angesehen werden? Auf keinen Fall. Zu den Statusgesellschaften in der Schweiz bis 2019 gehören auch grosse multinationale Schweizer Konzerne z.B. im Pharmasektor und viele international tätige KMUs. Ein grosser Teil dieser Gewinne geht deshalb auf die reale Wertschöpfung von Mitarbeitern und investiertem Kapital in der Schweiz zurück. Dennoch dürfte ein substanzieller Betrag tatsächlich auf verlagerte Gewinne entfallen, die von Unternehmen versteuert werden, die in der Schweiz über kaum mehr als eine Adresse verfügen. Ein Teil dieser verlagerten Gewinne haben die Schweiz jedoch wohl im Zuge der Unternehmenssteuerreform (STAF) inzwischen bereits verlassen.

84 Milliarden globale Gewinne, die in der Schweiz versteuert wurden, ist natürlich eine stolze Summe. Und bei Annahme einer effektiven Steuerbelastung zwischen 10% und 12.5% generierten diese Gewinne bei Bund, Kantonen und Gemeinde zwischen 8.4 und 10.5 Milliarden Franken an Steuereinnahmen. Mit der Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes dürfte ein Teil dieser Gewinne und entsprechend der Steuereinnahmen aus der Schweiz abwandern. Die Schweiz verfügt aber über entscheidende andere Standortvorteile wie Spitzenforschung, gut ausgebildete Fachkräfte, einen flexiblen Arbeitsmarkt, eine hohe Lebensqualität und nicht zuletzt eine attraktive Steuerbelastung der Einkommen. Damit haben die multinationalen Konzerne mit vielen hochqualifizierten Arbeitsplätzen in der Schweiz auch weiterhin gute Gründe, in der Schweiz zu bleiben. Umso mehr als andere Länder dann auch nicht mehr mit tiefen Steuern locken können.

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