Erst die Hälfte der Schweizer Bevölkerung ist zweifach gegen das Corona-Virus geimpft. Dabei bräuchte es einen Anteil von mindestens drei Vierteln, um die Infektionsrate einigermassen in den Griff zu bekommen. Der Impfzug, der anfänglich flott Fahrt aufnahm und im Juni und Juli gut unterwegs war, ist inzwischen ins Stocken geraten. Der Bundesrat hat nun entschieden, dass Corona-Tests ab Oktober kostenpflichtig sind. Er hofft die Ungeimpften damit umzustimmen, aber wird das reichen?
Bei den 20- bis 29-Jährigen liegt die Quote der vollständig Geimpften mit gut 40 Prozent nur halb so hoch wie bei den über 70-Jährigen (vgl. Abbildung). Seit Anfang der Pandemie sind 10’359 Personen mit Covid-19 Erkrankung verstorben (Stand Woche 31, 2021). Auf die Schweizer Bevölkerung bezogen sind dies 194 pro 100’000 Personen oder anders ausgedrückt ein Todesfall auf 837 Personen. Das Risiko, mit Covid-19 zu versterben, ist allerdings ungleich über das Alter verteilt. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind bisher drei Personen mit Covid-19 verstorben, bei den über 70-Jährigen 9397. Die junge Altersgruppe umfasst rund 1,05 Mio. Menschen, die über 70-Jährigen 1,15 Mio. Somit kommen auf einen Todesfall bei den Jungen 350’911 Personen, während es bei den Alten nur 122 Personen sind.

Eine Person, die nicht berücksichtigt, dass von ihrer Impfung auch andere profitieren, könnte folgende Überlegung anstellen. Durch die Impfung schütze ich mein Leben, weil sie das Covid-19 Sterberisiko markant reduziert. Was darf mich die Impfung an Zeitaufwand und möglichen Gebühren insgesamt kosten, damit sie sich lohnt? Nehmen wir an, die Person bewertet ihr Leben mit 7 Mio. Franken. Das ist der Betrag, den der Bund bei Investitionen im Bereich der Vermeidung von Unfall- und Gesundheitsrisiken einsetzt. Ist die Person über 70 Jahre alt, würde sie bereit sein, 57’234 Franken fürs Impfen aufzuwenden, als junge Person noch 20 Franken. Diese Zahlen ergeben sich, wenn man das jeweilige Sterberisiko mit der Zahlungsbereitschaft zur Vermeidung eines statistischen Todesfalls multipliziert. Aus der Warte der individuellen Nutzen-Kosten-Abwägung überrascht die Altersverteilung der Impfquote also nicht. Je höher das Todesfallrisiko, umso höher die Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Für die Jungen dagegen ist dieses Risiko so gering, dass bei der Abwägung von Nutzen und Opportunitätskosten das Impfen zu kurz kommt, insbesondere wenn noch Befürchtungen über mögliche Nebenwirkungen hinzukommen.
Diese Nutzen-Kosten-Überlegungen stellen für die Politik eine Herausforderung dar. Gerade erst ist der Moderna-Impfstoff für Jugendliche von 12 bis 15 Jahren zugelassen worden. Eine zweifache Impfung kostet ca. 60 Franken (2 Dosen à 15 Franken, 2 Mal Arztkosten von je 15 Franken). In der Altersgruppe 10 bis 19 Jahre mit insgesamt 840’000 Jugendlichen ist seit Beginn der Pandemie erst ein Todesfall mit Covid-19 aufgetreten. Macht man hier die Rechnung, ergibt sich eine Zahlungsbereitschaft für eine Vollimpfung von 8 Franken. Nach diesem einfachen Kosten-Wirksamkeits-Kalkül gemäss Krankenversicherungsgesetz rechnet sich die Impfung für die Jugendlichen nicht.
Es zeichnet sich ab, dass eine Herdenimmunität bei SARS-CoV-2 nicht zu erreichen ist. Neue Mutationen können irgendwo auf der Welt auftreten und sich ausbreiten, so dass das Virus leider auch in den Ländern nicht aushungert, wo die Impfquote hoch ist. Das wird uns letztlich zu Pragmatismus zwingen, die Impfkampagne auf jene Alters- und Krankheitsgruppen zu fokussieren, bei denen die Nutzen-Kosten-Abwägung günstig ausfällt. Gleichzeitig ist die vom Bundesrat eingeleitete Massnahme sinnvoll, das Testen nicht länger gebührenfrei zu gestalten. Bisher gehen die Kosten des Testens genauso wenig wie jene von Covid-19 Spitalbehandlungen in die individuelle Impfentscheidung ein. Versicherungsdeckung und staatliche Subventionen verhindern dies und tragen ihrerseits dazu bei, dass es mit der Impfquote nur mühsam aufwärtsgeht.
Was heisst das für die Universitäten in der Schweiz, wo in einem Monat das Herbstsemester beginnt? Nach den vorangehenden Ausführungen gilt eigentlich: Lasst die Studierenden selbst entscheiden und respektiert ihre Autonomie in gesundheitlichen Belangen! So einfach ist es aber leider nicht. Die Universitäten müssen und wollen das Präsenzstudium in einem gesundheitlich risikoarmen Milieu gewährleisten; jede auf dem Campus übertragene Infektion, insbesondere jede Infektionsfolge muss eine Universität gegebenenfalls ihrer Untätigkeit zurechnen lassen. Für die Beschäftigten, die im Kontakt mit Studierenden sind, wäre aus meiner Sicht eine berufliche Impfindikation, sprich Impfpflicht, geboten. Für die Studierenden kommt das Solidar-Motiv ins Spiel. Selbst wenn für den Einzelnen der Impfnutzen unterhalb seiner gesundheitlichen Zahlungsbereitschaft liegt, könnte es für alle attraktiv sein, sich zu einem gemeinsamen Impftermin zu verabreden und damit das Campusleben erheblich zu vereinfachen (siehe die Prinzen). Auch ein Impfbus, wie er an Bayerischen Universitäten eingesetzt wird, oder die kostenfreie Abgabe von Bratwürsten und Veggieburgern könnten helfen, damit die Studierenden anbeissen.
* Mit Dank an Bernt-Peter Robra, Hannover, für Anregungen.
Lieber Stefan,
es geht ja nicht nur um die Todesfälle, sondern auch um langfristige gesundheitliche Probleme. Die Liste der beobachteten nicht-tödlichen Beeinträchtigungen ist lang und wächst scheinbar jeden Monat. Aber wie bewertet man diese Folgen? Es gibt z.B. keine Schätzungen für die Bewertung eines Geschmacks- und Geruchssinns, aber die Ausgaben für teures Essen und gute Weine in der Schweiz implizieren eine sehr hohe Zahlungsbereitschaft dafür.
Da die Impfung relativ günstig werden diese zusätzlichen Nutzen wahrscheinlich ausreichen, um auf net benefits auch bei Jungen zu kommen.
Gruss
Beat Hintermann
Gut gebrüllt, Löwe, aber wieso springen sie denn nicht, unsere Studierenden?
Unten ist dargelegt, dass die “Risikokosten” für einen Jugendlichen ganz grob geschätzt bei über 300 CHF liegen und nicht nur bei 8 CHF. D.h. ein rational sich entscheidender Jugendliche würde sich impfen lassen da dies ein signifikanter Anteil des ihm zur Verfügung stehenden Jugendlohnes entspricht.
Nun gibt es ausreichend zur Verfügung stehende Literatur, die aufzeigt, dass Menschen nicht rational handeln. In einem Gespräch mit Freunden, zeigten diese vollkommenes Unverständnis für Menschen die sich nicht impfen lassen – ein solches Verhalten sei doch nicht rational – als ich sie darauf ansprach, warum sie denn nicht aufhören würden zu rauchen – war das Gespräch beendet.
Nicht nur die Studierenden springen nicht (alle) – es gibt auch alte Leute, die es nicht tun (wie etwa mich). Das Kalkül von Stefan F. ist erst eine Grundlage, um dann weiteren Motiven auf die Schliche zu kommen…Ich widersetze mich diesem an Zwang grenzenden Nudging durch Behörden und Mitmenschen, damit Covid nicht zum Muster für weitere staatliche Schutz und Selbstschutztaten wird. CO2-Zertifikate, Fett- und Zuckerzertifikate, Raucherzertifikate, Alkoholzertifikate… Es geht eben auch um Freiheit. Dafür kann man Risiken in Kauf nehmen..
Interessante Gedanken!! — Bei Investitionen im Bereiche der Vermeidung von Unfall- und Gesundheitsrisiken bewertet der Bund ein damit voraussichtlich zu rettendes Menschenleben einheitlich mit einem bestimmten Betrag. Etwas anderes bleibt ihm nicht übrig, da die damit voraussichtlich zu rettenden Personen unbekannt sind, d.h. keine Namensschilder mit Altersangabe etc. tragen. Bei den Menschen, die sich gegen das Corona-Virus impfen lassen, ist das anders; deren Alter ist bekannt. Dass Prof. Felder jedes dank einer Impfung gerettete Menschenleben unabhängig vom Alter dennoch mit 7 Mio. Franken bewertet, ist daher m. E. unhaltbar. Würde man stattdessen mit der dank der Impfung voraussichtlich “geschenkten” Lebensjahre rechnen, ergäbe sich ein völlig anderes Bild. Die Zahlungsbereitschaft der Jungen würde wesentlich höher und diejenige der Alten geringer.
Sehr geehrter Herr Engler, vielen Dank, ich stimme Ihnen ganz zu. Rechnet man mit der durchschnittlichen Restlebenserwartung der Schweizer Bevölkerung (RLE = ca. 40 Jahre), so ergeben sich aus den 7 Mio. Franken Zahlungsbereitschaft des Bundes für ein statistisches Leben 175’000 Franken für ein statistisches Lebensjahr. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Altersdifferenzierung des Wertes eines statistischen Lebens vornehmen (RLE * 175’000). Das spielt eine Rolle in der Diskussion um die Bepreisung von medizinischen Leistungen, bspw. bei der Behandlung von spinaler Muskelatrophie bei Kindern und Jugendlichen.
Berücksichtige ich das bei der Zahlungsbereitschaft der Jungen für die Impfung, so steigt sie um 40% auf 28 Franken.
Mir ist die Kalkulation nicht ganz klar.
1. Wenn die durchschnittliche Person ihr Leben mit CHF 7m bewertet, dann sollte ein Jugendlicher, der noch viel mehr Lebenszeit vor sich hat, sein Leben signifikant höher bewerten. Das Durchschnittsalter der Schweiz liegt knapp über 40 Jahren, angenommen das Durchschnittsalter der betroffenen Jugendlichen bei 15 Jahren. Dann sollte der Jugendliche, sein Leben mit CHF 19 m bewerten.
2. Angenommen es sind von den Jugendlichen 15% an Covid erkrankt und davon ist einer gestorben, dann stirbt statistisch gesehen also jeder 130 tausendste
3. Nicht berücksichtigt sind Long-Covid Schäden. Angenommen, die Summe der Long-Covid Schäden beträgt nochmals 2 Todesfälle pro 130.000 Erkrankungen.
Dann ergeben sie “Risikokosten” pro Jugendlichen statistisch bemittelt von:
CHF 19 m / 130.0000 *3 = ca. 450 CHF.
Angenommen, ein Jugendlicher hat privat 500-1000 Franken pro Monat zur privaten Verfügung, dann entspricht das also 50-100 % seines monatlichen Jugendlohnes. Der rational entscheidende Jugendliche sollte sich also dafür entscheiden, die kostenlose Impfung durchzuführen.
Danke für Ihren Kommentar, lieber Herr Overbeck. Ja, man könnte bei den Jungen vielleicht auf 10 Mio. für die Bewertung eines statistisches Leben hochgehen. Ihre 2 oder 3 Todesfälle pro 130.000 Erkrankungen sind eine bedingte Wahrscheinlichkeit. Diese müssen Sie mit den 15% multiziplieren, um das unbedingte Todesfallrisiko zu erhalten (die Jungen wissen ja nicht, ob sie erkrankt sind). Viel ändert das insgesamt nicht an der gesundheitlichen Zahlungsbereitschaft.
Lieber Herr Felder,
1. Bei der noch ausstehenden Lebenszeitbewertung habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht, ich habe mich am Alter und nicht an der noch ausstehenden Lebenszeit orientiert. Ein 15 Jähriger hat wahrscheinlich noch 75 Jahre, ein 42 Jähriger noch 40 Jahre zu leben. D.h. wir liegen hier fast bei einem Faktor 2 gegenüber Ihrer Annahme.
2. Da sich die Jugendlichen mit 100% Wahrscheinlichkeit anstecken werden. Ist die unbedingte Wahrscheinlichkeit für sie, dass sie an Corona sterben, gleicht der bedingten Wahrscheinlichkeit dass man stirbt, wenn man sich angesteckt hat
Sie setzten einen Todesfall pro 840.000 Jugendlichen an, ich schätze von den 840.000 Jugendlichen waren nur 15% krank. Die unbedingte Wahrscheinlichkeit dass man an Covid stirbt ist deshalb 1/(15%*840.000)=1/130.000. Das ist ein Faktor von 6,5 gegenüber Ihrer Annahme.
3. Sie berücksichtigen nicht die Effekte von Long Covid. Ich habe angesetzt, dass auf einen Todesfall noch einmal on-top “Long-Covid Kosten” in der Höhe von 2 Covid-Todesfällen zu berücksichtigen sind: Faktor 3.
In Summe ergeben sich so 2*6,5*3=39 mal so hohe “Risikokosten” wie von Ihnen angesetzt. Das sind 312 CHF – denn sie hatten 8 CHF geschätzt.
Würde mich freuen, wenn meine sehr groben Annahmen verfeinert werden. Aber gegeben dieser groben Annahmen, scheint ist mir rational für Jugendliche zu sein, sich impfen zu lassen.
Lieber Herr Overbeck,
Sie machen einen wichtigen Punkt. Ja, langfristig gilt wohl, dass sich alle Ungeimpften mit dem Virus anstecken werden. Eine bedingte Sterblichkeit von 1/130’000 bei den Jugendlichen ist immer noch sehr klein und ohne Zweifel mit einer hohen Unsicherheit behaftet, ob sie richtig gemessen und kausal mit dem Virus verbunden ist. Auch Long-Covid-Kosten sind bisher noch nicht verlässlich identifiziert worden. Das Epidemiengesetz verlangt vom Staat jedoch, dass seine Massnahmen zweckmässig, wirksam und wirtschaftlich sind. Swissmedics prüft die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit, vom BAG hören wir dagegen nichts zur Wirtschaftlichkeit.