In den letzten zehn Jahren beobachten wir in der Schweiz – genau wie in anderen entwickelten Volkswirtschaften – ein extrem niedriges nominales und reales Zinsniveau mit Werten von nahe null. Neben niedriger Inflation und expansiver Geldpolitik bietet sich unter anderem die demographische Entwicklung als mögliche Erklärung für dieses Phänomen an. Seit den 1980er Jahren nahm der Bevölkerungsanteil im „sparintensiven“ mittleren Alter (40-64) deutlich zu, was auch zu einer Zunahme der Spartätigkeit führte, während die Investitionsneigung vor allem seit der jüngsten Finanzkrise relativ gering blieb[1].
Jüngst wurde in einer US-Studie aber auch noch eine andere Erklärung für die Zunahme der Sparneigung thematisiert[2]: Die Zunahme der Einkommensungleichheit. Da Bezüger von hohen Einkommen eine höhere Sparneigung haben als Menschen mit tiefen Einkommen, erhöht sich mit steigender Ungleichheit auch die gesamtwirtschaftliche Sparquote. Dies lässt sich mit US-Daten der Jahre 1960-2020 untermauern, die zeigen, dass die dramatische Zunahme der Ungleichheit tatsächlich zu einer höheren Sparquote und so zu einer Senkung des Realzinses geführt hat.
Auch in der Schweiz ist der Anteil der 10% höchsten Einkommen am gesamten Bruttoeinkommen seit Mitte der 1990er-Jahre von etwa 29% auf 33% gewachsen. Obwohl diese Zunahme der Ungleichheit im Vergleich zu den USA (von ca. 34% auf über 45% im gleichen Zeitraum) bescheiden ist, stellt sich doch die Frage, wie stark die Zunahme der Ungleichheit zur Zinsentwicklung in der Schweiz beigetragen hat.
Abbildung 1 gibt den Verlauf der Rendite der Bundesanleihen mit 10 Jahren Laufzeit und des Top10% Einkommensanteils in der Schweiz wieder. Die Graphik suggeriert einen negativen Zusammenhang der beiden Grössen und der einfache Korrelationskoeffizient ist mit -0.65 auch statistisch hoch signifikant.
Abbildung 1

Aus dieser Korrelation kann jedoch nicht zwangsläufig auf einen Einfluss der Einkommensverteilung auf das Zinsniveau geschlossen werden. Abbildung 2 zeigt das Verhältnis von SNB-Bilanzsumme zum BIP (rechte Skala, als Mass für die expansive Geldpolitik) und den Anteil der 40 bis 64-jährigen an der CH-Wohnbevölkerung (linke Skala, in Prozent). Offensichtlich sind beide Grössen bis 2018 bzw. 2012 stark gewachsen und bieten sich ebenfalls zur Erklärung der Zinsentwicklung an.
Abbildung 2

Ein ökonometrische Analyse der Bedeutung der verschiedenen Einflussfaktoren auf das Zinsniveau in der Schweiz führt zu den folgenden Ergebnissen: Die Obligationenrendite wird statistisch signifikant von Inflationsrate, vom Anteil der mittleren Altersgruppe, vom Bilanzsummen-BIP-Verhältnis und vom Top10%-Einkommensanteil beeinflusst (technisch gesprochen sind diese Grössen «kointegriert»). Die Schätzergebnisse zeigen aber auch, dass der Einfluss der Einkommensverteilung statistisch und ökonomisch die geringste Signifikanz aufweist: Tatsächlich war der dramatische Anstieg der SNB-Bilanzsumme vom historisch üblichen Niveau von 0.2 bis 0.3 des BIP auf den 1.2-fachen BIP Wert mit einer Zinsreduktion von ca. 2.5% verbunden. Ähnliches gilt für die Demographie: Der Anstieg des Anteils der mittleren Altersgruppe von 30 auf 35 Prozent äussert sich in einem um 1.5% niedrigeren Zinsniveau. Hingegen führte der Anstieg des Top10%-Einkommensanteils nur zu einem Zinsrückgang von ca. 0.5%
Die oben präsentierten Zahlen beruhen auf einer rein Schweizerischen Erklärung des Zinsverlaufs. Da die Schweiz jedoch im internationalen Zinszusammenhang mit dem dominanten Einfluss der US-Finanzmärkte steht, muss auch kurz auf diesen Aspekt eingegangen werden. Für die Abschätzung des Einflusses der Geldpolitik und der Demographie stellt die internationale Betrachtung kein grosses Problem dar, da in allen relevanten Ländern im betrachteten Zeitraum ähnliche geldpolitische und demographische Bedingungen vorlagen. Hingegen kann der Effekt der Einkommensverteilung in der erweiterten Betrachtung bedeutsam sein, da sich die US Entwicklung stark von der Schweizerischen unterscheidet. Mit anderen Worten besteht die Möglichkeit das ein starker Einfluss der zunehmenden Einkommensungleichheit sozusagen aus den USA in die Schweiz «importiert» wurde. Zur Abschätzung dieses Effekts wurde das oben geschätzte Modell um die Rendite zehnjähriger US Treasuries erweitert. Dabei zeigt sich statistisch hoch signifikant, dass die Zinsentwicklung in der Schweiz zu etwa 1/3 durch die US-Entwicklung bedingt ist. Da die US Rendite seit Mitte der 1990er Jahre um knapp 6% zurückgegangen ist, ergibt sich daraus eine US-bedingte Abnahme der Schweizer Rendite von ca. 2%. Damit verbunden ist eine Reduktion des Zinssenkungsbeitrags von CH-Geldpolitik und CH–Demographie von ca. 4 % auf 2%. Auf diesem indirekten Weg hat die US-amerikanische Zunahme der Einkommensungleichheit einen wesentlichen Effekt auf das Schweizerische Zinsniveau.
[1] Vgl. dazu den WWZ Faculty Blog vom 18.8.2020 https://unibaswwzfaculty.blog/2020/09/18/zinsen-geldpolitik-und-demographie/
[2] Atif Mihan, Ludwig Straub und Amir Sufi: “What explains the decline in r*? Rising income inequality versus demographic shifts”, Study prepared for the 2021 Jackson Hole Economic Symposium, August 2021.