Frauenstimmrecht: politische und private Ermächtigung

Vernachlässigter Aspekt der Schweizer Wirtschaftsgeschichte

Die manchmal nicht so stille Revolution rund um die Einführung des allgemeinen Stimm- und Wahlrechts der Frauen in der Schweiz hat massgeblich zur Emanzipation der Frauen im 20. Jahrhundert beigetragen. Die Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit und die Bildung lassen sich nun rückblickend auch statistisch quantifizieren.

Erfahrung mit dem Stimm- und Wahlrecht in unterschiedlichem Alter

Als ‘anmassend’ wurde die anonyme Petition von Zürcher Frauen bezeichnet, die 1868 im Rahmen der Verfassungsreform das Frauenstimmrecht forderten. Und als Iris von Roten ganze neunzig Jahre später das Buch «Frauen im Laufgitter» publizierte, empfand man das Werk als skandalös. Von Roten setzte sich für das Frauenstimmrecht ein und strebte die Befreiung von traditionellen Zwängen im privaten an – im Schlafzimmer ebenso wie bei der wirtschaftlichen Tätigkeit (vgl. Box 1 zum Werk von Iris von Roten). Tatsächlich hat das Wahlrecht für Frauen eine Entwicklung der Emanzipation verstärkt, die wohl weit über die Erwartungen der Frauen in der damaligen Zeit hinausgegangen ist. Dies lässt sich heute sagen, da wir die Lebensentscheide der Frauen bezüglich Erwerbstätigkeit, Heirat, Bildung etc. rückblickend beobachten können. Vor allem können wir die Entscheide zwischen Jahrgängerinnen vergleichen, die aufgrund der zeitversetzten Einführung des Frauenstimmrechts in den Kantonen und beim Bund in ganz unterschiedlichen Lebensphasen das Wahlrecht erhalten haben. Eine 1945 im Kanton Waadt geborene Frau hat ab 1959, das heisst ab dem Alter von 14 Jahren miterlebt, wie ihre Mutter und alle anderen Frauen das Stimm- und Wahlrecht in Kantonsangelegenheiten erlangten. Demgegenüber hatte ihre Jahrgängerin im Kanton Bern dasselbe Recht erst mit 26 Jahren erfahren, als 1971 auf eidgenössischer Ebene und kurz darauf auf kantonaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde (vgl. Box 2 zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz).


Box 1: Das 579-seitige Werk «Frauen im Laufgitter», das Iris von Roten 1958 publizierte, ist sowohl eine Anklageschrift wie auch eine äusserst breit recherchierte Studie zur Situation der Frauen in der Gesellschaft in der Schweiz aber auch in Ländern mit anderen Kulturen und politischen Institutionen. In bester sozialwissenschaftlicher Manier hat sie darin darauf verwiesen: «Wieweit nun die politische Gleichberechtigung der Frau dazu geführt hat und bei uns dazu führen wird, sie «mit anderen Augen» zu sehen und solch neuer Betrachtungsweise in Form von anderen Konventionen und Verhaltensweisen Rechnung zu tragen, ist natürlich schwer zu messen. Denn der Zusammenhang kann ja nur mehr mittelbar und damit schwer verfolgbar sein» (S. 577). Heute können wir auf die ausgelösten Veränderungen bei den Normen und im Verhalten auf systematische Weise zurückblicken. Das Laufgitter ist weitgehend Reminiszenz.

Zehn Jahre arbeitete Iris von Roten an diesem Paukenschlag, der ein Jahr vor der ersten eidgenössischen Abstimmung zur Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene herausgegeben wurde, und Frauen wie Männer zu jener Zeit heraus- und teilweise überforderte. Entsprechend ablehnend waren die Reaktionen selbst unter vielen Frauenrechtlerinnen. Breite Anerkennung hat das Werk erst nach ihrem Tod 1990 erhalten.


Box 2: Neben den Frauen im Kanton Waadt hatten die Frauen im Kanton Neuenburg 1959 und im Kanton Genf 1960 das Wahlrecht ebenfalls früh. Doch in anderen Kantonen wie Basel-Stadt ging es bis 1966 oder fand die Einführung erst anfangs der 70er Jahre statt. Bekanntlich hatten die Appenzellerinnen das Wahlrecht zwar ab 1971 auf eidgenössischer Ebene, jedoch in Ausserrhoden erst 1989 und in Innerrhoden erst 1990 auf kantonaler Ebene.


Ermächtigung durch politische Rechte

Für unsere statistische Analyse nutzen wir genau diesen Umstand aus, dass Frauen mit demselben Jahrgang je nach Geburtsort das Wahlrecht in ganz unterschiedlichem Alter erhalten haben. Wir vergleichen dann die Lebensentscheide dieser Frauen (respektive der Mütter und Väter für ihre Töchter) und fragen uns, ob eine frühere Erfahrung mit dem Frauenstimmrecht im Durchschnitt zu selbstbestimmteren oder eben emanzipierteren Lebensentwürfen der Frauen geführt hat. Eine umfangreiche Forschung in der Psychologie und Politologie betont, dass Rechte zur politischen Teilnahme das Gefühl der Kontrolle der eigenen Umstände stärken. Dies ermutigt zu einem wirtschaftlich selbstbestimmten Leben und senkt die Abhängigkeit von einem Ehepartner.

Erhöhte Frauenerwerbstätigkeit

Die Analyse zeigt, Frauen, welche die Einführung des Frauenstimmrechts im eigenen Kanton oder auf Bundesebene vor ihrem 17. Geburtstag erlebt haben, gehen später im Leben mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit einer bezahlen Arbeit ausserhalb des eigenen Haushalts nach als Frauen, welche das Stimm- und Wahlrecht erst mit 36 Jahren oder noch später erhalten haben. Der Unterschied in der Erwerbswahrscheinlichkeit beträgt zirka 10 Prozentpunkte. Die Analyse basiert auf den Daten der eidgenössischen Volkszählungen in den Jahren 1980, 1990 und 2000 und der Strukturerhebung 2010. Bei der Berechnung der Unterschiede werden neben dem Jahrgang der Frauen eine lange Reihe möglicher Bestimmungsgründe der Erwerbstätigkeit statistisch berücksichtigt (vgl. Box 3 für weitere Ausführungen zur Strategie bei der statistischen Analyse).


Box 3: Unsere empirische Strategie nutzt die Tatsache, dass Frauen, die im selben Jahr und im selben Kanton geboren wurden, je nach Geburtskanton in unterschiedlichem Alter dem Frauenstimmrecht ausgesetzt waren. Da wir die Kohorten von Frauen über mehrere Volkszählungen hinweg beobachten, können wir Alterseffekte, kantonsspezifische Jahreseffekte und auch geburtskohortenspezifische regionale Arbeitsmarkteffekte statistisch berücksichtigen und als Treiber von Unterschieden – beispielsweise der Beschäftigung – herausrechnen. Die empirische Strategie identifiziert den spezifischen Effekt des Frauenstimmrechts damit unter der Annahme paralleler Trends bei den Kohorten über die Kantone hinweg, d. h. wir schliessen aus, dass es kantons- und kohortenspezifische Effekte gibt, die mit der Einführung des Frauenstimmrechts korrelieren, aber nicht mit ihr zusammenhängen.


Insgesamt zeigt die Analyse, dass die Einführung des Frauenstimmrechts neben dem technologischen Wandel, veränderten Möglichkeiten bei der Familienplanung, etc. ein quantitativ wichtiger Faktor war, der massgeblich zum starken Anstieg der Frauenerwerbsquote über die letzten Jahrzehnte beigetragen hat wie sie in Abbildung 1 ersichtlich ist.

Abb. 1 Frauenerwerbsquote in der Schweiz

Anmerkung: Die Erwerbsquote entspricht dem Anteil der weiblichen Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose gemäss ILO) an der Referenzbevölkerung, d.h. der Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren.

Datenquelle: Bundesamt für Statistik.

Veränderte Bildungs- und Heiratsentscheide

Die höhere Erwerbstätigkeit hängt teilweise daran, dass Frauen in einer Umgebung mit Frauenstimmrecht auch eher einen höheren Bildungsabschluss erlangten, das heisst mehr als die obligatorische Schule und vielleicht eine Hauswirtschaftsschule besuchten. Konkret steigt die Wahrscheinlichkeit um zirka 15 Prozentpunkte zwischen jenen, die vor Erlangung des 17 Lebensjahres anstatt erst im Alter von 36 oder mehr Jahren das Stimm- und Wahlrecht für Frauen erfahren haben. Die bessere Bildung und die höhere Erwerbstätigkeit wurden auch von selbstbestimmteren Entscheidungen bei der Ehe begleitet. Frauen, die früh das Wahlrecht erhalten haben, gehen im Durchschnitt später und mit einer um zirka 3 Prozentpunkte geringeren Wahrscheinlichkeit eine Ehe ein als solche, die dies spät erfahren haben. Ebenso lösen Frauen, die das Wahlrecht früh erfahren haben, ihre Ehe mit zirka 3 Prozentpunkte höherer Wahrscheinlichkeit eher auf.

Abkehr von traditionellen Geschlechternormen

Die unterschiedliche Prägung reflektiert sich nicht nur in den Lebensentscheiden dieser Frauen, sondern zeigt sich auch in unterschiedlichen Geschlechternormen, die bis heute messbar sind. In einer in dieser Form einzigartigen «Erhebung zu Familien und Generationen» in den Jahren 2013 und 2018 wurden Frauen zu ihren Rollenbildern befragt. Um Frauen mit unterschiedlichen Erfahrungen vergleichen zu können, stützen wir uns auf die Antworten von Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung älter als 45 Jahre waren. Wir beobachten, dass Frauen, die das Stimm- und Wahlrecht nach dem 25. Geburtstag erhalten haben, traditionellere Normen vertreten als jene, bei denen es die Frauen um sie herum bereits während ihrer Kindheit oder Jugend erhielten. So unterstützen sie eher die Aussage, dass ein Universitätsabschluss oder eine Arbeitsstelle für Männer wichtiger sei als für Frauen. Sie sind auch eher mit der Aussage einverstanden, dass die Frauen primär für den Haushalt und die Kindererziehung verantwortlich sein sollten.

Umdenken bei den Männern

Insgesamt war das Frauenstimmrecht eine wichtige Triebkraft für die wirtschaftliche Entwicklung und die Erwerbstätigkeit der Frauen in der Schweiz, wobei sich die Auswirkungen heute rückblickend quantifizieren lassen. Die Ermächtigung der Frauen wurde dabei vermutlich verstärkt durch ein Umdenken der Väter, Brüder und Ehemänner. So sehen wir in unserer Analyse, dass diese mit der Erfahrung des Frauenstimmrechts in ihrem Kanton auch eine offenere Einstellung gegenüber dem Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene entwickelten. Dazu vergleichen wir die Entwicklung der Unterstützung auf Gemeindeebene zwischen den beiden nationalen Abstimmungen in den Jahren 1959 und 1971.

Finanzpolitik nicht betroffen

Erstaunlicherweise finden wir keine messbaren Auswirkungen der Einführung des Stimm- und Wahlrechts auf kantonaler Ebene auf die kantonale Finanzpolitik. So beobachten wir keine systematische Veränderung der Gesamtausgaben und ebenso wenig bei einem möglicherweise besonders geschlechterspezifischen Thema, den Kinderzulagen in der Familienpolitik. Wir haben auch die Sitzanteile der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz in den Kantonen untersucht, das heisst jener Partei, die sich am frühesten für das Frauenstimmrecht engagiert hat. Gemäss unseren Analysen hat sie jedoch nicht von der Einführung des Frauenstimmrechts profitiert.

Raus aus dem Laufgitter

Der Umbruch bei den politischen Rechten der Frauen in der Schweiz hat seine Spuren möglicherweise also stärker bei den privaten Lebensentscheiden als in der öffentlichen Politik hinterlassen. Um beim Bild von Iris von Roten zu bleiben, die Frauen haben ermächtigt das ihnen lange auferlegte Laufgitter verlassen.

Der Beitrag stützt sich auf den Aufsatz mit dem Titel «Women leaving the playpen: The emancipating role of female suffrage», der nächstens in der Zeitschrift Economic Journal erscheinen wird. Dr. Alois Stutzer, Professor für Politische Ökonomie, hat ihn zusammen mit Dr. Michaela Slotwinski, Postdoktorandin an den Universitäten Zürich und Mannheim sowie Research Fellow an der Universität Basel, verfasst.

Link zum Originalaufsatz: https://academic.oup.com/ej/advance-article/doi/10.1093/ej/ueac077/6783159


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